Johann Sebastian Bach
Oster-Oratorium BWV 249
Naxos 8.551240-42
3 CD • 2h 41min • 2005
01.12.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Nach einem insgesamt dreistündigen Morgengottesdienst mit einer einstündigen Predigt bekam die Leipziger Gemeinde am Nachmittag des 11. April 1727 während der Karfreitagsvesper die neue große Passionsmusik ihres Thomaskantors zu hören. Zusammen mit Liturgie und Predigt ergab das erneut eine beträchtliche Zeitspanne, diesmal gut dreieinhalb Stunden. Figurale Passionsmusiken hatten in Leipzig noch keine lange Tradition wie beispielsweise in Hamburg, so wird man nicht ungeduldig auf das neue Werk gewartet haben. An gute Musik war man in Leipzig freilich gewöhnt, Bachs Vorgänger Kuhnau war ein ausgezeichneter Komponist gewesen, und auch die Qualitäten Bachs dürfte man inzwischen zu schätzen gelernt haben, selbst wenn dieser bei seiner Berufung 1723 nicht die erste Wahl gewesen war. So hörten die Besucher des Gottesdienstes die erste Aufführung von Bachs Matthäuspassion offensichtlich ohne das Gefühl, einem historischen Augenblick beizuwohnen, Reaktionen der Begeisterung oder des Unmuts (die geistliche Obrigkeit der Stadt war bei Dramatisierungen biblischer Stoffe sehr empfindlich) sind jedenfalls nicht überliefert.
Emil Platen weist in seinem hervorragenden Begleittext auf diesen bisher wenig beachteten Umstand ebenso hin wie auf die inzwischen wissenschaftlich erhärtete Tatsache, daß die Matthäuspassion bereits 1727 erstmalig erklungen ist und nicht erst 1729. Das spätere Datum hatte angesichts der Wiederaufführung des Werkes als Jahrhundertfeier der Komposition durch Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 lange einen sakrosankten Status, war doch diese Wiedererweckung der Matthäuspassion zugleich eine Krönungsfeier des Werkes zum „größten und heiligsten musikalischen Kunstwerks der Deutschen“. Diese Vormachtstellung hat die Matthäuspassion für 150 Jahre unangefochten behalten. Emil Platens Informationen zum Werk können übrigens in seiner bei Bärenreiter/dtv erschienenen Monographie zur Matthäuspassion vertieft werden.
Helmut Müller-Brühl taucht die dramatische Schilderung des biblischen Geschehens bei Matthäus in ein mildes Licht. Andächtige Betrachtung bestimmt eher die Interpretation als der Wille, Bachs musiktheatralische Mittel zur Darstellung des biblischen Dramas auszuleuchten. Besonders deutlich wird das bei dem Duett mit Chor „So ist mein Jesus nun gefangen“, wo der Klagegesang der beiden Frauenstimmen über die Gefangennahme ihres Meisters von Einwürfen des Chores „Laßt, haltet, bindet nicht!“ dramatisch zugespitzt wird. In der vorliegenden Einspielung klingen diese Zwischenrufe wie entsetzte Kommentare angesichts des hereingebrochenen Unheils, nicht wie der Aufschrei der gläubigen Seele, die im letzten Augenblick eingreifen will, an dem die Katastrophe noch aufzuhalten gewesen wäre.
Die Aufnahmetechnik unterstreicht den Eindruck einer meditativen Grundstimmung: Es ist keinerlei örtliche Positionierung der beiden Chöre zu erkennen, wenn sie die dramatische Zuspitzung des Geschehens dialogisch begleiten, folglich wird auch klanglich zwischen kleiner und großer Chorbesetzung kein Unterschied gemacht. Hier gehen wichtigen Nuancen des Werks verloren.
Unter den Gesangssolisten sticht Nico van der Meel mit hell timbrierter Tenorstimme als Evangelist hervor, bei insgesamt sehr guter Textverständlichkeit kommt nur selten ein leichter holländischer Akzent durch. Bei den Solisten der Arien sieht es mit der Textverständlichkeit leider nicht gut aus: Hanno Müller-Brachmann opfert nahezu jeden Vokal der Tongebung. Die niederländische Sopranistin und die aus Norwegen stammende Altistin kämpfen ebenfalls mit den Worten, ohne daraus Volumen für ihre Töne zu gewinnen – sie bleiben beide bei durchaus schönen Stimmen etwas schwach auf der Brust. Allein der Tenor Markus Schäfer weiß rundum zu überzeugen. Raimund Nolte gestaltet einen würdigen Jesus, ebenso wie der in Korea geborene Locky Chung als Petrus, Judas, Pilatus und Pontifex für sich einnimmt: weder bei Nolte noch bei Chung stehen sich Klangschönheit und klare Aussprache entgegen. Der Dresdner Kammerchor beweist seine Qualitäten als einer der besten deutschen Chöre unserer Tage.
Helmut Müller-Brühl verfolgt zwar mit seiner Interpretation einen eher meditativen Ansatz, doch erspart er seinen Zuhörern schleppende Tempi, die oft mit verinnerlichten Deutungen der Matthäuspassion einhergehen. Generell zügig (ohne zu eilen) gestaltet er das Werk und eröffnet sich so die Möglichkeit, an einzelnen Stellen durch verhaltenes Tempo besonders in die Tiefe zu gehen.
Bei aller Kritik in Einzelpunkten zeigt diese Version der Mattäuspassion dennoch ein deutliches Eigenprofil im Dschungel der vorliegenden Einspielungen und im oft unversöhnlichen Gegeneinander der Aufführungspraktiken. Diese Eigenart teilt sich dem Zuhörer unaufdringlich mit und verschafft dieser Aufnahme durchaus einen Platz im oberen Drittel der Diskographie des Werkes.
Detmar Huchting [01.12.2005]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Matthäus-Passion BWV 244 |
Interpreten der Einspielung
- Nico van der Meel (Tenor)
- Raimund Nolte (Bariton)
- Locky Chung (Bass)
- Claudia Couwenbergh (Sopran)
- Marianne Beate Kielland (Alt)
- Markus Schäfer (Tenor)
- Hanno Müller-Brachmann (Bass)
- Dresdner Kammerchor (Chor)
- Knaben des Kölner Domchors (Chor)
- Kölner Kammerorchester (Orchester)
- Helmut Müller-Brühl (Dirigent)