Igor Strawinsky
SWRmusic 93.226
1 CD • 58min • 2007
07.11.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
„Der eine nörgelt, der andere nicht!” Das wäre doch, dachte ich bei mir, der treffliche Titel für ein Zweipersonenstück aus der Musikgeschichte, bei dem man einen Theaterabend lang die imaginäre Begegnung der Antipoden Arnold Schönberg und Igor Strawinsky auf einer Bühne verfolgen könnte: Auf der einen Seite der ewig grantelnde Besserwisser aus Wien, der jeder Gattung sein eifersüchtig gehütetes System aufdrücken wollte und keine Gegenwartsgötter neben sich duldete; auf der anderen der vielseitige, wendige, ebenso umsichtige wie umtriebige Mann aus Rußland, dem die ganze Historie Anregung und Wegweiser war. Dort der giftige Satiriker, der nach dem Motto „Ich würde ja, wenn man mich ließe ...” hinter allen Aktionen einen gegen ihn zielenden Verrat witterte; hier das vermeintliche Chamäleon, das selbst bei den heftigsten Bruchlandungen eine gewisse Eleganz nicht verlor und wenigstens nicht allzu lange die Schuld beim ignoranten Publikum suchte. All das in einem verhältnismäßig nüchternen Szenarium, halb Dinner for one, halb Vorspiel im Himmel, dazu etwas authentische Bühnenmusik – und wir wären schnell viel schlauer als nach unendlichen Debatten mit und ohne Adorno...
Der Einfall kam mir, als ich mich in Michael Gielens neue Auseinandersetzung mit dem späten Schaffen Igor Strawinskys versenkte. Das, was bestimmte Kreise in den frühen fünfziger Jahren als das „Zu-Kreuze-Kriechen” des „kleinen Modernsky” bejubelten, der sich seinen alten „Bubizopf“ hat absäbeln lassen – diese Hinwendung zur Zwölftonmethode war, wenn wir’s heute betrachten, keine Kapitulation, sondern der schlagende Beweis eines künstlerischen und persönlichen Formats, das nicht jedem gegeben ist. Und die scheinbare Wandlung war, jedenfalls höre ich das in diesen exzellenten Interpretationen, noch etwas ganz anderes: Sie war die Quadratur eines Kreises, von der der Erfinder des Duodezimalsystems entweder keine Ahnung oder wofür er keine Verwendung hatte. Denn während er aus vergangenen Gegebenheiten eine neue Musik synthetisieren wollte, ging es für Strawinsky bei genauerem Hinhören niemals ums Vorher-Nachher, und das nicht einmal in Kompositionen, für die er sich, wie in dem Canticum sacrum von 1956 oder dem Ballett Agon aus den Jahren 1954-57 mit den modernsten Mitteln ausgerüstet hatte. Kurz gesagt: Die „fortschrittliche” äußere Erscheinung und die Komplexität der Faktur etwa in den ausgetüftelten Metren des Tanzstückes lassen nicht nur historische Anregungen und Modelle durchschimmern, sondern verbreiten über weite Strecken selbst eine echte Zeitlosigkeit, wie sie nur wahrer Größe zu eigen ist.
Davon ist auch Michael Gielen offenbar restlos überzeugt, denn er vermag die musikalischen Eindrücke in einer Weise zu heben, die sich nur teilweise beschreiben lässt. Sicherlich liegt es unter anderem an demselben exakten Timing, das schon in der vor zwei Jahren erschienenen Einspielung der drei Strawinsky-Sinfonien (Hänssler Classics CD 93.183) zu beobachten war; dann spielen selbstverständlich die mit ungeheurer Genauigkeit verfolgten Stimmführungen, Farbwerte und kontrapunktischen Verstrebungen eine wesentliche Rolle; doch das erklärt immer noch nicht den tänzerischen Schwung, mit dem Agon, und die ergreifende Präzision, mit der die hinreißenden Requiem Canticles so unwiderstehlich geraten. Schließlich sind auch die technischen Seiten der Werke zwar interessant, nicht aber der eigentliche Grund der tiefen Wirkung. Der Mann, für den Komponieren angeblich nichts weiter war als die Positionierung der richtigen Noten an den richtigen Stellen – dieser „Modernsky” war vor allem andern eine überragende Persönlichkeit, und als solche tritt sie mir hier mit aller Wucht und mit der vernehmlichen Aufforderung entgegen, wieder einmal einige andere Werke zu hören: nicht notwendigerweise die durch und durch gekannten Romantizismen oder das Sacre du Printemps, sondern Sachen wie die Klaviersonate, die Klavierkonzerte, das Violinkonzert, den Oedipus Rex und all jene oftmals so unterkühlt sich gebärdenden Stücke, in denen der Alchimist sein Wesen für alle Zeiten eingefangen hat.
Lassen wir diesem Goldmacher Igor Strawinsky und seinem Anwalt Michael Gielen also getrost ihre letzten Geheimnisse und freuen wir uns, daß es Aufnahmen von diesem Kaliber gibt. Daß die lateinischen Gesangstexte nicht ins Deutsche übersetzt wurden, ist der einzige kleine Haken – doch wenn dann am Ende des „Taschenrequiems”, wie Strawinsky seine letzte größere Kreation genannt hat, das Libera me in seinem genialen Stimmgewirr um die Lösung aus ewigen Todesbanden fleht, dann ist einem die editorische Flüchtigkeit auch schon wieder gleich.
Rasmus van Rijn [07.11.2008]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Igor Strawinsky | ||
1 | Canticum sacrum ad honorem Sancti Marci nominis | 00:19:28 |
9 | Agon (Ballet for twelve dancers) | 00:23:00 |
25 | Requiem canticles für Soli, Chor und Orchester | 00:15:00 |
Interpreten der Einspielung
- Christian Elsner (Tenor)
- Rudolf Rosen (Bass)
- Stella Doufexis (Mezzosopran)
- Vokalensemble Stuttgart (Chor)
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)