Johannes Brahms
Complete Symphonies
SWRmusic 93.267
3 CD/SACD • 2h 44min • 2005
04.02.2011
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Unbestreitbar, man kann Roger Norrington eine gewisse Neigung zu Brahms nicht absprechen: zweimal, in knapp anderthalb Dezennien, hat er die vier Sinfonien des norddeutschen Meisters auf CD gebannt. Immer mit ganz auf seinen Kurs gebrachten Ensembles - zunächst mit dem von ihm gegründeten englischen Orchester „on period instruments", den London Classical Players, jetzt mit dem „modernen" Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, dessen Chefposition er seit 1998 inne hat. Dass er dabei seine Sicht sonderlich geändert hat, wird man kaum behaupten können. Sir Roger ist nun einmal konsequent, man mag es auch verbissen nennen. Jedenfalls erhebt er - im Begleitheft zur Stuttgarter Aufnahme - die Klage, dass „niemand in den letzten 60 Jahren sich für die Klangwelt zu Brahms' Zeit interessiert habe". Niemand natürlich außer Norrington; der Unterschied zwischen den beiden Einspielungen liegt nicht zuletzt darin, dass die „authentische" Londoner Gruppe ungefähr in der Größe der meisten Orchester im späteren 19. Jahrhundert aufspielt, derweil bei den „heutigen" Stuttgartern eine verdoppelte Bläserschar den verstärkten Streichern gegenübertritt (wie es um 1870 offenbar die Wiener Philharmoniker gehalten haben).
Hören wir uns zum Vergleich ein paar Passagen im Detail an. Zunächst die Einleitung zum Finale der ersten Sinfonie. Bei Norrington gibt es in der Tat nicht den geringsten Ansatz von Pathos, dafür gelegentlich einen Spannungsabfall, am deutlichsten spürbar in den beiden Pizzikato-Partien. So schön dann das Hornsolo geblasen wird (bei den Londonern freilich noch poetischer), es fehlt bei soviel Nüchternheit die emotionale Überwältigung dieser Klänge. Eine ähnliche Distanziertheit findet sich in der Passacaglia der vierten Sinfonie, wobei auffällt, dass bei der ersten Variation in der Stuttgarter CD die Akzente stärker gesetzt werden. Dass dann in dieser aktuellen Veröffentlichung mitten in der dritten Sinfonie, im Poco Allegretto-Scherzo, auf eine reduzierte Besetzung gewechselt wird, dürfte kaum den sonst so hochgehaltenen Usancen der Brahms-Zeit entsprechen.
Da Norrington, versteht sich, auf seinem Markenzeichen, der vibratofreien Artikulation der Streicher (bis hin zu einer dünnen, ja spitzen Tongebung) beharrt, ist eine zweifellos gewollte Bläserlastigkeit die unausweichbare Folge. Weil solcherart auch das Legato zurückgefahren wird, bleibt eine gewisse Ruckartigkeit der musikalischen Abläufe nicht zu überhören. Daneben gibt es, zugegeben, immer wieder bezwingende Momente von fast rührender Schlichtheit; andererseits klingt das Allegretto in der zweiten Sinfonie weniger grazioso (wie von Brahms gewünscht) als vielmehr verzopft. Bisweilen kommt einem dieser Brahms überhaupt skelettiert vor - was man übrigens sogar positiv werten mag: ansonsten verborgene Strukturen und Klangmischungen werden freigelegt. Zumal Norrington zwar zu den raschen, nicht aber zu den raschesten in seinem Fach gehört. Und so gesteht auch der Kritiker seinen Zwiespalt ein: Soll er diese Brahms-Auslegung als zumindest spezielle und diskutable Alternative in der ausufernden Brahms-Diskographie anerkennen oder darf er zugeben, dass er sich hin und wieder ein bißßchen gelangweilt hat?
Mario Gerteis † [04.02.2011]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johannes Brahms | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 | 00:45:40 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 | 00:44:38 |
CD/SACD 3 | ||
1 | Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 | 00:34:42 |
5 | Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98 | 00:39:04 |
Interpreten der Einspielung
- Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Orchester)
- Sir Roger Norrington (Dirigent)