Martha Argerich
Early Recordings
Mozart | Beethoven| Prokofiev | Ravel
DG 00289 479 5978
2 CD • 1h 31min • 1960, 1967
01.06.2016
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Man durfte es hoffen, man konnte es sogar erwarten: Verschollene, vergessene, zumindest seit ihrem Entstehen in den 60er-Jahren unbeachtete Rundfunkaufnahmen zum 75. Geburtstag der Pianistin Martha Argerich in zeitgemäßer CD-Qualität ans mediale Tageslicht geholt! Der Deutschen Grammophon ist es zu danken, in den Archiven des Kölner WDR und des Hamburger NDR die akustischen Bestände nicht nur gesichtet zu haben, sondern sie haben auch die Einwilligung der Pianistin erhalten, eine gute Portion ihrer damaligen Schand- und Glanztaten zu veröffentlichen. Der Begriff Schandtat im Sinne künstlerischer Jugendsünde sollte in diesem Zusammenhang lediglich andeuten, dass die 19jährige Martha Argerich etwa Prokofieffs Toccata op. 11 im Hamburger Rolf-Liebermann-Studio deutlich ungebärdiger, wenn man will: podiumslüsterner hinlegte als im Jahr darauf, als sie das rassige Stück für ihre DG-Debütplatte einspielte. Besonders der Schluss mit den Kalaschnikoff-Oktaven gelang ihr bei dieser Gelegenheit kontrollierter, ohne freilich an Wucht und Ätzkraft einzubüßen.
Die Geburtstags-Edition ist in verschiedener Hinsicht für den Argerich-Verehrer ebenso wie für den etwas distanzierter erlebenden Klavierphilologen interessant. Zunächst fällt bei der Betrachtung des Repertoires ins Auge, dass hier auf der CD 1 zwei Werke berücksichtigt sind, die in der Konzert- und Studiolaufbahn der Interpretin keine Rolle mehr spielten: Mozarts letzte Klaviersonate in D-Dur (KV 576) und die mit vier Sätzen so auffallend, ja waghalsig vielgestaltige D-Dur-Sonate op. 10,3 von Beethoven. Sie gehörten – wie auch die Prokofieff-Toccata und Ravels „Scarbo“ – 1957 zu den Programmen des Bozener Busoni-Wettbewerbs und der kurz darauf folgenden Concours-Veranstaltung in Genf. Martha Argerich hatte beide Stücke zusammen mit ihrem Lehrer Friedrich Gulda vorbereitet, wobei ich nicht davon ausgehe, dass beide musikalischen Komplexe nach den üblichen Regeln eines Lehrer/Schüler-Verhältnisses einstudiert waren. Auf der Grundlage ihrer phänomenalen, sozusagen urwüchsigen, also wie angeborenen Technik suchte sich die junge Musikerin durchaus eigene Wege, kam – sozusagen von flinken, intelligenten Fingern geleitet – zu eigenen gestalterischen Schlussfolgerungen bzw. Augenblicksentscheidungen.
Soweit ich Martha Argerichs Wirken überblicke, ist diese Mozart-Sonate die einzige der 18 Sonaten geblieben, die sie einem Tonband oder einem modernerem Tonträger anvertraut hat. Flott in den Ecksätzen, im Adagio mit geradezu schüchterner Sanglichkeit gelingt es ihr, dem „späten“ Mozart trotz kontrapunktischer Finessen ein jugendliches Flair zu verleihen. Die Wiedergabe wirkt auf mich wie die Dokumentation eines Stückes, das man an einem frühen Punkt der Karriere ohne große Probleme „mitnimmt“. So wie auch die genannte Beethoven-Sonate, deren tiefsinniges, schmerzlich-tröstliches „Largo e mesto“ in manchen Momenten expressive Willensbildung zeigt, im Wesentlichen aber von der Frische, von der Luft- und Duftigkeit der motorischen Ecksätze getragen und auf Kurs gehalten wird. Fabelhaft locker und zugleich zwingend gelingt es der Pianistin, die Elementarteilchen des Finalsatzes zu binden, ohne deren Eigenlebigkeit bis hin zu den letzten Auflösungserscheinungen anzutasten.
Mit Ravels Gaspard de la nuit und der Sonatine bestätigt Martha Argerich ihre pianistische, emotionale und in allen Fragen der beschreibenden Eloquenz auch intellektuelle Zuständigkeit. In den folgenden Studioeinspielungen wirkt alles um eine Spur gebändigter und auch gesäuberter. Den „ Ondine“- und „Scarbo“-Kapiteln der Rundfunkproduktionen sind freilich klangsinnliche Eleganz und im besten Sinne auch sportliche Rasanz eigen, wie sie im Reich der Ravel-Virtuosität bis zu heutigen Tag (fast) kein Gegenstück haben. Dem Galgen („ Le gibet“) verleiht die junge Dame mit auffällig flüssigem Zeitmaß und freundlicher Tongebung vergleichsweise humanen Charakter. In solchen eher fahlen, lebensfeindlichen Passagen positionierte sich die frühe, aber auch die spätere Argerich weit weg etwa von ihren Ravel-Kollegen Benedetti Michelangeli und Ivo Pogorelich. Auch der aus Uelzen stammende Hinrich Alpers veranschlagte jüngst für die „Vollstreckung“ dieses Satzes die üblichen rund fünfeinhalb Minuten. Martha Argerich erledigte das düstere Geschäft am 8. September 1960 immerhin schon nach vier Minuten und etwa 40 Sekunden…
Neu im Argerich-Katalog ist die quirlige a-Moll-Sonate von Prokofieff (op. 28), die eines jener atemberaubenden Beispiele von schier wahnwitziger Fingerakrobatik und blitzschneller Auffassungsgabe ist, mit der diese Langzeitkünstlerin in ihren besten Momenten die Hörer bis zum heutigen Tag fasziniert. Zusammen mit Alexis Weissenbergs strategischer angelegten Video-Aufnahme ist diese Einspielung für mein Empfinden die fesselndste Version dieses Bonsai-Sonatenformats.
Vergelichseinspielungen: Gaspard de la nuit – Argerich (DG – Great Pianists Philips 456 715-2), Gulda (Decca – Great Pianists Philips 456 817-2), Benedetti Michelangeli (Great Pianists Philips 456 901-2 ), Ivo Pogorelich (DG LP 2532 093), Alpers (Honens 201502); Prokofieff op. 11: Argerich (Busoni-Wettbewerb 1957 – Nuova era 6716-DM, DG 447 430-2); Op. 28: Weissenberg (Medici arts DVD 3078048)
Peter Cossé † [01.06.2016]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Wolfgang Amadeus Mozart | ||
1 | Klaviersonate Nr. 18 D-Dur KV 576 | 00:13:51 |
Ludwig van Beethoven | ||
4 | Klaviersonate Nr. 7 D-Dur op. 10 Nr. 3 | 00:22:10 |
CD/SACD 2 | ||
Sergej Prokofjew | ||
1 | Toccata d-Moll op. 11 | 00:04:16 |
Maurice Ravel | ||
2 | Gaspard de la nuit | 00:18:19 |
Sergej Prokofjew | ||
5 | Klaviersonate Nr. 3 a-Moll op. 28 | 00:06:21 |
Maurice Ravel | ||
6 | Sonatine fis-Moll | 00:10:09 |
Sergej Prokofjew | ||
9 | Klaviersonate Nr. 7 B-Dur op. 83 | 00:15:45 |
Interpreten der Einspielung
- Martha Argerich (Klavier)