Johann Friedrich Reichardt
Die Geisterinsel
cpo 777 548-2
2 CD • 2h 33min • 2002
29.12.2017
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Erst mit den systematischen Übersetzungen Christoph Martin Wielands (1761-66) und Johann Joachim Eschenburgs (1775/82), der später noch die singuläre Schlegel-Tieck-Edition folgte, wurden William Shakespeares Dramen auf dem deutschen Theater heimisch. Sehr bald entdeckte man dann das Opernpotential, das in diesen Stücken steckte. Die Komödie The Tempest (1611) wählte Johann F. W. Gotter, ein Freund Goethes, der schon Libretti für Georg Benda geschrieben hatte, als Vorlage für sein Singspiel Die Geisterinsel, wobei er auf einen älteren Versuch des Freiherrn Friedrich H. von Einsiedel zurückgreifen konnte.
Gotter ging mit Shakespeares Drama, das er möglicherweise gar nicht richtig begriffen hatte, sehr frei um. Er setzte auf die damalige Beliebtheit von Zauber- und Märchenstücken, auf spektakuläre Effekte wie Schiffbrüche und Naturkatastrophen, strich einen großen Teil des Personals, fügte aber gleichzeitig neue Figuren hinzu. Offenbar hatte er ein Werk wie Die Zauberflöte vor Augen, als er den Kampf der Kräfte des Lichts und der Finsternis in den Mittelpunkt rückte. Der Hexe Sycorax, Calibans Mutter, wird der in einer Pantomime schließlich obsiegende Schutzgeist Maja entgegengestellt.
Für die Vertonung seines Librettos hätte sich Gotter Mozart oder wenigstens Dittersdorf gewünscht, mußte sich dann aber mit heute unbekannten Kleinmeistern wie Friedrich Haack und Friedrich Fleischmann zufrieden geben. Erst als nach seinem frühen Tod Schiller den Text in einer Ausgabe der Monatsschrift „Die Horen“ abdruckte, machten sich - fast gleichzeitig - zwei arrivierte Meister an die Arbeit: Johann Friedrich Reichardt, dessen Version am 6. Juli 1798 am Nationaltheater Berlin uraufgeführt wurde, und Johann Rudolf Zumsteeg, dessen Fassung nur fünf Monate später am Stuttgarter Hoftheater herauskam. Zumsteegs Oper wurde 2010 vom SWR unter Leitung von Frieder Bernius ausgegraben und anlässlich ihrer Veröffentlichung auf CD (Carus 83.229) zu Recht als Entdeckung gewürdigt.
Nun liegt auch Reichardts Singspiel auf Tonträgern vor und es macht - jedenfalls auf mich - einen noch stärkeren Eindruck. Beide Komponisten gehen von ähnlichen stilistischen Prämissen aus und in beiden Fällen ist das große Vorbild Mozart gegenwärtig, auch wenn es zu keinen direkten Nachahmungen kommt. Reichardt versteht aus dem schlichten Text musikalische Funken zu schlagen. Das beginnt schon mit der stürmischen Ouvertüre, die gleich ins Zentrum des Geschehens führt, obwohl die Handlung dann erst einmal eher idyllisch angeht. Faszinierend ist der phantasievolle und farbenreiche Einsatz der Blasinstrumente im Dialog mit den Gesangsstimmen, aber auch in den Unwettermusiken und in der Beschwörung der Geister im 3. Akt. Gegenüber Zumsteeg, der seine Geisterinsel als Oper, nicht als Singspiel deklariert, verfolgt Reichardt in den Sologesängen und Vokalensembles einen liedhaft einfachen Stil, der bei aller Eingängigkeit immer originell und nie trivial klingt.
Die Produktion des WDR ist schon fünfzehn Jahre alt, mithin beinahe „historisch“, aber sie ist auch zum jetzigen Zeitpunkt noch hochwillkommen, lässt sie doch eine lange vergessene Perle der Gattung Singspiel wieder lebendig werden. Und diese Lebendigkeit ist das große Verdienst des Dirigenten Hermann Max und seiner exzellenten Instrumentalisten „Das Kleine Konzert“, die Reichardts Klangzaubereien mit Delikatesse und Wärme vergegenwärtigen. Dabei ist der Dirigent aber immer auf dramatische Unmittelbarkeit bedacht und durch die untadelige Diktion der Sänger lässt sich auch ohne die Hilfe der abgedruckten Gesangstexte die Handlung in allen Einzelheiten nachvollziehen. Sehr hilfreich ist auch die Vokaldramaturgie, die in den Ensembles die Stimmen unterscheidbar macht: Miranda ist einem warmen lyrischen Sopran (Ulrike Staude) anvertraut, der Luftgeist Ariel einem lyrisch-dramatischen Sopran (Romelia Lichtenstein), der bei Shakespeare nicht vorgesehene Page Fabio, der in seinen Herrn Fernando verliebt ist, dem bestrickenden Koloratursopran der mittlerweile als Interpretin zeitgenössischer Musik zu einiger Berühmtheit gelangten Barbara Hannigan. Bei den vier Bässen gibt es vergleichbare Differenzierungen, wobei der seriöse kantable Bass von Ekkehard Abele als Prospero zu dem dunkleren und etwas groberen Tom Sol als Caliban deutlich kontrastiert, während die beiden Taugenichtse Oronzio und Stefano buffoneske Töne beitragen. Als Fernando bewährt sich Markus Schäfer einmal mehr als kultivierter lyrischer (Mozart-)Tenor.
Ekkehard Pluta [29.12.2017]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Friedrich Reichardt | ||
1 | Die Geisterinsel (Ein Singspiel in drey Akten) | 02:32:45 |
Interpreten der Einspielung
- Ulrike Staude (Miranda - Sopran)
- Romelia Lichtenstein (Ariel - Sopran)
- Barbara Hannigan (Fabio - Sopran)
- Markus Schäfer (Fernando - Tenor)
- Ekkehard Abele (Prospero - Baß)
- Tom Sol (Caliban - Baß)
- Jörg Hempel (Oronzio - Baß)
- Yoshitaka Ogasawara (Stefano - Baß)
- Rheinische Kantorei (Chor)
- Das Kleine Konzert (Orchester)
- Hermann Max (Dirigent)