Beethoven
Complete Symphonies
DG 483 7071
5 CD + 1 Blu-Ray Audio • 5h 58min • [P] 2019
03.12.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Rechtzeitig zum Beethoven-Jahr, wo ein weiteres Mal vergeblich versucht wird, uns den Meister mit medialer Trivialgewalt madig zu machen, ist nun auch der erste Komplettzyklus der neun Symphonien unter der Leitung von Andris Nelsons, einem der zweifellos begabtesten und musikalischsten Dirigenten unter den anerkannten Stars unserer Zeit, erschienen, und das Orchester der Wahl bei der Deutschen Grammophon ist weder das Boston Symphony noch das Leipziger Gewandhausorchester, also kein aktuelles ‚Nelsons-Orchester‘: Es spielen die Wiener Philharmoniker, und wieder zeigen sie sich in altbekanntem, neuem Glanz. Die Zusammenarbeit funktioniert auch deshalb sehr gut, weil Nelsons keinen dogmatischen Fortschrittsansatz verfolgt, sondern sich als ‚Weiterträger der Fackel‘ der Tradition versteht. Zum Glück für den Hörer, falls dieser weder Angst hat, als reaktionär zu gelten, wenn er das Schöne und Gute genießt, und auch nicht sofort hysterisch wird, wenn die zeitlose Qualität dieser Musik mehr unterstrichen wird als die persönliche Ambition des Dirigenten, etwas Besonderes sein zu wollen, oder irgendeine sich besonders authentisch dünkende ideologische Obsession. Beethoven in der Tradition, aber mit Frische und Schwung, und eben endlich mal wieder voller Poesie und Farbenreichtum, weil auch das Lyrische wieder öfter für wert erachtet wird, aufblühen zu dürfen, ohne dass sich die Ausführenden gleich unsportlich und hoffnungslos anachronistisch vorkommen. Man merkt, es ist an der Zeit für eine Trendwende, und hier könnte man Zeichen einer solchen lesen. Aber wir werden sehen…
Nelsons trifft zudem überwiegend vernünftige Entscheidungen, wie sie eigentlich überall der musikalische Sachverstand und eben auch das, was wir Intuition nennen können, gebietet. Davon möchte ich die aus strukturellen, formkonstituierenden Gründen zu schnellen Tempi des Kopfsatz-Allegro in der Siebten Symphonie und des rahmenden Scherzo in der Neunten Symphonie ausnehmen. Lassen wir die Metronomisierung ohnehin beiseite, um die sich Nelsons ja berechtigterweise auch sonst nicht allzu kleinlich kümmert. Denn das Abmessen der Korrektheit an der Einhaltung der Geschwindigkeitsvorschrift ist vor allem ein Elysium für unbegabte Erbsenzähler, die, wenn sie sonst auch gar nichts hören, doch immerhin zu wissen scheinen, wie man ein Metronom einstellt und endlich einmal selbst TÜV spielen dürfen, wo es um Kunst geht. Im Kopfsatz der Siebten ist die ternäre Struktur bei diesem schnellen Tempo nicht wirklich durchzuhalten, und gerade am Höhepunkt wäre die von Beethoven konsequent durchgeführte Konfrontation von Staccato und Tenuto so grundlegend bedeutsam, doch dazu bedarf es einer gemesseneren Gangart, so sehr mancher dies auch an anderen Stellen des Satzes ‚um des Schwungs willen‘ bedauern mag, und so üblich es auch sein mag, diese fundamentale Notwendigkeit in unserem Konzertleben seit jeher, und immer mehr, zu ignorieren. Und im Scherzo der Neunten wird bei diesem zügigen Grundtempo das Trio, wie allgemein üblich, zu einem gemütlichen Spaziergang, der mit der eigentlichen Absicht des Komponisten gar nichts zu tun hat: also runter mit dem Grundtempo, und dann kann man im Trio vier Schläge in der gleichen Zeit unterbringen wie im Scherzo drei. Oder eben nicht, wie leider auch hier.
Umso idiomatischer gelingt vieles andere. Und oft ist es geradezu innig – eine Qualität, die man aus historischen Aufnahmen großer Maestri kennen mag, die wir aber in unserem Vollgas-Kurzbogen-Spritzigkeits-Mainstream (der sich gerne ‚historisch informiert‘ nennt, ohne dies hinreichend belegen zu können) schon fast ganz vergessen haben. So gibt es neben spannungsgeladenen Kopf- und Finalsätzen und animierend tänzerischen Scherzi erstaunlicherweise auch mal wieder so etwas wie richtig langsame Sätze, die eine Aura entfalten dürfen, die sie wie Phoenix aus der Alte-Musik-Patina aufsteigen lässt. Das alles hat mit dem denunzierend gemeinten Begriff der ‚Romantik‘ nichts weiter zu tun, als dass Beethoven eine Schlüsselposition zwischen Klassik und Romantik einnimmt, was nichts weiter besagt, als dass die Kategorisierer einmal kurz „ja“ sagen dürfen. Die, um die sich Beethoven nie geschert hat. Also ist auch – in Maßen – Vibrato erlaubt, und – Rubato! Das Mittel, das die Pianisten so herrlich ungerügt missbrauchen dürfen, und für welches Dirigenten und Orchester von den Besserwissern hingerichtet werden, wenn auch nur auf dem Papier, und wahrscheinlich nur, weil ein gutes, organisches Rubato im Kollektiv viel schwerer zu erzielen ist als von einem Einzelnen. Es versteht sich übrigens von selbst, dass der Einsatz des Rubato subtil ist. Und nicht immer passt es, wie zum Beispiel die plötzliche Beschleunigung des orchestralen Fugato im Anschluss an das Alla marcia im Finale der Neunten: Hier wäre ein unerbittliches Momentum viel bezwingender. Etwas irritiert bei diesem von Klaus Florian Voigt exzellent vorgetragenen Alla marcia (‚Freudig wie ein Held zum Siegen‘), das im Interesse des Nachfolgenden wohl am besten noch eine Spur zügiger genommen worden wäre (hier ist der Mainstream ausnahmsweise schleppend verortet): Die Tenorstimme klingt ein bisschen, als wäre sie in einem separaten Raum mit Orchesterplayback aufgenommen worden, aber das ist eine klassische Abmischungssünde, für die wir keinen Musiker verantwortlich machen können. Es sei erwähnt, dass alle vier Solisten im Finale der Neunten (also auch Camilla Nylund, Gerhild Romberger und Georg Zeppenfeld) sowie der Wiener Singverein auf hohem Niveau agieren. Nelsons orchestrale Balance und sei Sinn für Klangschönheit und gut dosierte Schärfungen überzeugen weitgehend, wobei eine Vorliebe für hervorstechend schmetternde Trompeten im Fortissimo vielleicht auf seine besondere Verbundenheit mit diesem Instrument zurückzuführen ist. Also, insgesamt eine sehr gute, für unsere Zeit weit überdurchschnittlich empfehlenswerte Gesamtaufnahme, auch klangtechnisch ansprechend, und mit einem soliden Booklettext, dem lediglich das ziemlich abscheulich gestylte Cover-Artwork Hohn spricht.
Christoph Schlüren [03.12.2019]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Ludwig van Beethoven | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21 | 00:21:55 |
5 | Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 (Eroica) | 00:52:26 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36 | 00:34:26 |
5 | Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60 | 00:34:18 |
CD/SACD 3 | ||
1 | Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67 | 00:34:43 |
5 | Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 für Orchester (Pastorale) | 00:40:56 |
CD/SACD 4 | ||
1 | Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 | 00:36:16 |
5 | Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93 | 00:26:29 |
CD/SACD 5 | ||
1 | Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (mit Schlußchor über Verse aus Schillers "Ode an die Freude") | 01:08:24 |
Interpreten der Einspielung
- Wiener Philharmoniker (Orchester)
- Andris Nelsons (Dirigent)
- Camilla Nylund (Sopran)
- Gerhild Romberger (Alt)
- Klaus Florian Vogt (Tenor)
- Georg Zeppenfeld (Bass)
- Wiener Singverein (Chor)