Friedrich Gernsheim
The Works for Violin & Piano
cpo 555 330-2
2 CD • 2h 14min • 2019
25.02.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Nach den Symphonien, Violinkonzerten, Klavierquintetten, Cellosonaten und der ersten Folge der Streichquartette hat cpo seinen Streifzug durch das Schaffen Friedrich Gernsheims fortgesetzt und eine Doppel-CD mit sämtlichen Werken für Violine und Klavier vorgelegt. Bezogen allein auf die vier Violinsonaten ist die Einspielung von Christoph Schickedanz und Ernst Breidenbach bereits die zweite Gesamtaufnahme, denn 2012 hatten Stefan und Andreas Kirpal die Werke für Brilliant aufgenommen. Auch Introduktion und Allegro appassionato op. 38, ein hochvirtuoses Konzertstück, war bereits von diesem Album her bekannt. Während sich die Brüder Kirpal jedoch entschieden, noch die Klavierbearbeitung des orchesterbegleiteten Fantasiestücks op. 33 hinzuzunehmen (das cpo mittlerweile in der Originalgestalt aufgezeichnet hat), machen Schickedanz und Breidenbach mit zwei zuvor noch nicht eingespielten Jugendwerken des Komponisten bekannt: einer weiteren Sonate und einem einzeln stehenden Andante, die Gernsheim beide 1853 als 14-jähriger Konservatoriumsschüler in Leipzig schrieb. Das Album bietet damit die Möglichkeit, Gernsheims stilistische Entwicklung von seinen Anfängen über die Opera 4, 38, 50, 64 bis hin zur 1912 veröffentlichten Vierten Violinsonate op. 85 nachzuvollziehen.
Mit sicherer Hand
Die ganz frühe Sonate in e-Moll beginnt mit dem Lieblingsrhythmus Felix Mendelssohn Bartholdys und steht auch sonst ganz im Banne dieses alles überstrahlenden Idols der damaligen Leipziger Komponisten. Ob Gernsheim in ihr nur eine Stilübung gesehen hat, um sich anhand eines Vorbilds in der Beherrschung großer Formen zu üben? Jedenfalls muss man konstatieren, mit welch sicherer Hand dieses Stück geschrieben ist! Kein Satz fällt gegen die anderen ab, beide Instrumente werden gleichermaßen an der Verarbeitung der Gedanken beteiligt, auch hinsichtlich der Klangfarben gestaltet der junge Gernsheim abwechslungsreich.
In der offiziellen Sonate Nr. 1 kommt zu allen diesen Vorzügen noch der eines starken eigenen Tonfalls. Das Stück ist eine Sonata quasi fantasia mit langsamem Kopfsatz, Scherzo und raschem Finale. Ohne einen eigentlichen Sonatenhauptsatz zu enthalten, nimmt es einen stringenten, in sich völlig schlüssigen Verlauf abseits der damaligen Formkonventionen. Verglichen mit der Studiensonate fällt auf, dass der Kontrapunkt mit größerer Phantasie innerhalb der Werkdramaturgie eingesetzt wird.
Die drei späteren Sonaten – alle in klassischer drei- oder viersätziger Form – sind von einer solchen satztechnischen, klanglichen und formalen Souveränität, angesichts derer man nur darüber staunen kann, dass diesen Werken so lange keine diskographische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Stilistisch lässt sich Gernsheim als Parallelerscheinung zu seinen Freunden Brahms und Bruch begreifen. Von Brahms unterscheidet ihn seine Vorliebe für helle, strahlende Klangfarben und Harmonieverbindungen, von Bruch die Tatsache, dass er sich ständig weiterentwickelt hat und nicht zeitlebens die Stilistik seiner Frühwerke beibehielt. So klingt die letzte Sonate fast schon eher nach Ludwig Thuille als nach Johannes Brahms. Einem dieser drei Meisterwerke den Vorzug vor den anderen zu geben, fällt schwer. Jede Sonate besitzt ihre individuellen Schönheiten, denen sich nachzuspüren lohnt. Zu Aufführungen in Konzerten seien sie alle wärmstens empfohlen.
Höhepunkt der Gernsheim-Edition
Schickedanz und Breidenbach haben sich offenbar intensiv mit all diesen Stücken auseinandergesetzt und sich die Werke ganz zu eigen gemacht. Stets hat man den Eindruck, dass die Musiker über den Verlauf der Musik Bescheid wissen und entsprechend die einzelnen Ereignisse im Bezug zum jeweils vorangegangenen und nachfolgenden sehen. So bleibt die Spannung durchweg erhalten und wird der Zusammenhalt der Sätze gewährleistet. Ohne das Verdienst der Brüder Kirpal um die erstmalige Präsentation der Gernsheimschen Violinsonaten auf CD schmälern zu wollen, lässt sich doch Schickedanz und Breidenbach attestieren, dass ihre feineren dynamischen Schattierungen und ihre stärker differenzierte Artikulation den Werken eine Farbigkeit entlockt, wie sie so in der älteren Aufnahme noch nicht zu erleben war.
Im Bezug auf die Qualität der Darbietungen markiert die vorliegende Gesamteinspielung den bisherigen Höhepunkt der Gernsheim-Reihe von cpo. Ein Begleittext, der ausführlich über die einzelnen Stücke informiert, rundet diese hervorragende Produktion ab.
Norbert Florian Schuck [25.02.2021]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Friedrich Gernsheim | ||
1 | Sonate Nr. 1 c-Moll op. 4 für Violine und Klavier | 00:16:39 |
4 | Sonate e-Moll für Violine und Klavier | 00:20:23 |
8 | Sonate Nr. 3 F-Dur op. 64 für Violine und Klavier | 00:30:17 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sonate Nr. 4 G-Dur op. 85 für Violine und Klavier | 02:54:40 |
4 | Introduktion und Allegro appassionato op. 38 | 00:09:24 |
6 | Andante F-Dur für Violine und Klavier | 00:05:55 |
7 | Sonate Nr. 2 C-Dur op. 50 für Violine und Klavier | 00:25:24 |
Interpreten der Einspielung
- Christoph Schickedanz (Violine)
- Ernst Breidenbach (Klavier)