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Besprechung CD

Tristan

Igor Levit

Sony Classical 19439943482

2 CD • 1h 42min • 2020, 2019

15.09.2022

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Trafen Igor Levits letzte beiden Sony-Alben (Encounter, On DSCH) auf ungeteilte Begeisterung beim Rezensenten, fällt das Urteil über die Neuveröffentlichung unter dem Motto Tristan etwas durchwachsen aus. Lange ließ eine Neuaufnahme von Hans Werner Henzes Tristan – Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester von 1973 auf sich warten, mit das schönste seiner konzertanten Werke. Nach der mittlerweile 47 Jahre alten Einspielung mit Homero Francesh unter Leitung des Komponisten hört man nun erstmalig auf CD die Fassung von 1991, wofür Henze die Zuspielbänder, die ursprünglich das Live-Geschehen über weite Strecken verstörend überlagerten, revidiert und enorm entschärft hat – gerade die ekelhaften elektronischen Diskantkklänge im Lament und in Tristan’s Folly.

Henzes Tristan - leider auf Sparflamme

Leider können Igor Levit und das Leipziger Gewandhausorchester die zugegebenermaßen hohen Erwartungen nicht wirklich erfüllen. Das liegt vor allem am Dirigenten Franz Welser-Möst, der – eigentlich mit Händchen für moderne Klavierkonzerte – hier über knapp 50 Minuten erschreckend unentschieden ein Spitzenorchester Noten herunterbuchstabieren lässt, ohne jeden Sinn für Dramatik oder Henzes spezifische Klangwelten. Zwar geben insbesondere die Holzbläser ihr Bestes, doch schon manche aggressiv gemeinten Blecheinwürfe erzeugen nicht den nötigen emotionalen Druck (etwa Track [4], ab 4‘36‘‘). Wegen der nun recht zahmen Zuspielungen – die zudem viel zu leise abgemischt oder teils ganz weggelassen (?) wurden – wünschte man sich im Orchester umso mehr Intensität. Warum wurden nicht Henze-Experten wie Markus Stenz oder Ingo Metzmacher dafür engagiert? Aber auch Levit selbst entlässt bei den langen Solopassagen Klänge derart unverbindlich in die Luft, dass sie streckenweise fast beliebig wirken. Zwar gefällt, dass der Pianist eben nicht Henzes – zumindest damaliger – Klavierästhetik, die einen mehr scharfen, spitzen Klang forderte, folgt, sondern durchaus auf Zartheit setzt. Dennoch: Mehr Fleisch, weniger Esoterik wäre angebrachter. Im zu langsamen Epilog gelingen Levit die kurzen, tänzerisch-weltlichen Einwürfe dann immerhin überzeugend.

Wagner und Liszt mit Übersicht in kühler Klarheit

Die zweite CD beginnt mit Wagners Vorspiel zu Tristan und Isolde in der fantastischen Klavierfassung von Zoltán Kocsis. Hier muss sich Levit freilich an dessen eigener Einspielung messen lassen. Der benötigte gut eine Minute weniger, verfügte über mehr Klangfarben und Empathie, betonte das Rauschhafte der großen Steigerung. Levit konzentriert sich hingegen völlig auf die Architektur, bleibt innerhalb eines klar definierten Klangspektrums – engagiert, ohne sich auch nur einen Moment zu verlieren. Recht unterschiedliche Auffassungen, jeweils konsequent umgesetzt; rein pianistisch gibt es keinen eindeutigen Sieger. Dass danach nicht Liszts Version des Liebestods folgt, sondern Mahler (der Anschluss passt irgendwie), wird natürlich viele erzürnen. Den überstrapazierten Liebestraum Nr. 3 sowie die Harmonies du soir aus den 12 transzendentalen Etüden, die dem Album als Klammer dienen, gestaltet Levit recht kühl, wieder mit Übersicht und Klarheit, bricht keinerlei Rekorde an Virtuosität oder Klangmassierung. Daran mögen sich die Geister scheiden.

Das Adagio aus Mahlers Zehnter in berückender Einsamkeit

Der bereits stellenweise geäußerten Kritik an Levits Interpretation des Adagios aus Mahlers uninstrumentiert hinterlassener 10. Symphonie – in der kongenialen Transkription des Briten Ronald Stevenson, dessen Passacaglia on DSCH Glanzstück des letztjährigen Albums war – darf allerdings widersprochen werden. Die Realisation der ruhigen, anfangs einstimmigen Streicherlinien auf dem Klavier – Stevenson verzichtet überwiegend auf Tremolos à la Liszt – erscheint ja zunächst geradezu unvorstellbar, und wird dann zum absoluten Ereignis. Mittels unfassbar genau austarierter Dynamik und perfekter Anschlagskultur schafft es Levit, Mahlers komplexes Stimmengeflecht durchsichtig, dabei emotional glaubwürdig zu durchdringen – bis zu jenem monströsen Akkordaufschrei gegen Schluss: Weltflucht in höchster Energie. Für den Hörer ist dies freilich anstrengend und beglückend zugleich, ohne eine Sekunde zu langweilen. Die Darbietung dieser Mahler-Transkription allein wäre vielleicht schon den Erwerb des Doppelalbums wert. Aufnahmetechnisch sind die Solostücke nicht zu beanstanden und Anselm Cybinskis Booklettext erhellt die Zusammenhänge des Programms.

Vergleichsaufnahmen: [Henze] Homero Francesh, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Hans Werner Henze (DG 449 866-2, 1975); [Tristan-Vorspiel] Zoltán Kocsis (Philips 416 457-2, 1980)

Martin Blaumeiser [15.09.2022]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Franz Liszt
1Liebestraum Nr. 3 S 541/3 (O lieb, so lang du lieben kannst, Notturno) 00:03:54
Hans Werner Henze
2Tristan 00:49:20
CD/SACD 2
Richard Wagner/Zoltán Kocsis
1Tristan und Isolde für Klavier (Vorspiel) 00:10:51
Gustav Mahler/Ronald Stevenson
2Sinfonie Nr. 10 (Adagio) 00:27:53
Franz Liszt
3Étude Nr. 11 Des-Dur (Harmonies du soir; aus: Douze Etudes d'exécution transcendante) 00:10:01

Interpreten der Einspielung

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