Bruckner Spectrum
Berlin Classics 0302806BC
1 CD • 59min • 2022
07.10.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die 2015 gegründeten Zurich Chamber Singers, ein bis zu dreißigköpfiges Vokalensemble, gehören bereits zu den führenden Chören zumindest in Europa. Diese CD bestätigt die Lobeshymnen: ein wohlabgerundeter Chorklang mit sehr warmen und satten Bässen, ganz leichten Tenören und relativ hellen Frauenstimmen, eine hervorragende Transparenz und Ausbalanciertheit der Stimmen, eine hörbar perfekte Atemtechnik sowie eine gute Artikulation erfreuen insgesamt.
Bruckner als moderner Palestrina?
Die CD ist gewiss sehr sorgfältig und fantasievoll zusammengestellt. Aber Bruckner als „Palestrina der Moderne“ zu bezeichnen, wie der Bruckner-Biograf Max Auer im Booklet zitiert wird, ist wohl nicht ganz haltbar. Die ganze cäcilianische Bewegung, die Palestrina als ihren Hausgott verehrt hat, ist an Bruckner vorbeigegangen. Aber als Inspiration für katholische Vokalmusik kann Palestrina gelten – aber Bruckner geht vor allem harmonisch weit darüber hinaus. Logischer könnte man den modernen Komponisten Burkart Kinzler (1963 geboren) als modernen Bruckner bezeichnen: Er führt Bruckner, ich zitierend und mit ihm beginnend, auf dieser CD als „Brückenbau“ kompositorisch weiter. Dazu weiter unten mehr.
Bruckner wie Palestrina?
Vier Palestrina-Motetten stehen zehn von Bruckner gegenüber. Die Zurich Chamber Singers lassen diese Palestrina-Musik natürlich-ruhig fließen, bisweilen dynamisch wellenbewegt mit schwebender Binnenspannung, alles sehr keusch, niemals aufgeregt, niemals expressiv: eine mehr nordisch-germanisch denn italienische Interpretation.
Es scheint so, als wolle Christian Erny, der Chorleiter, etwas von dieser abgeklärten Ruhe auf die Musik von Bruckner übertragen, also, etwas zugespitzt, Bruckner „palestrinieren“, wenn dieser Neologismus erlaubt sei. Das ergibt sauberste Intonation und fast ein wenig Knabenchorklang zum Beispiel in Virga Jesse (Track 02) – aber manchmal möchte man mehr Bruckner-Ton, mehr Expressivität, mehr klangliche Ekstase, mehr mystisches Schimmern und sangliches Glühen. So sind im Christus factus est est (Track 06) der kühne Tonartenplan“ (so schreibt Michael Wersin) von d-Moll über Des-Dur nach der Kreuzes-Tonart H-Dur, die chromatischen Anstiege und Ketten von Septimvorhalten genau nachgezeichnet – aber eben nur genau, nicht überbordend, überschwellend. Schön dafür sind die Pausen als Spannungsvorhalte mitgedacht.
Ein Bruckner der Moderne?
Die glühende Ekstatik ist dann aber bei den drei BrucknerBrücken von Burkard Kinzler da: Die beziehen sich genau auf die vorhergehende Bruckner-Musik, gehen teilweise daraus hervor und leiten zur nächsten Nummer über. Es sind textlose, frei schwebende, irisierende und schillernde, in sich vibrierende Gesangslinien, die sich reiben und auf- und abgleiten, aus dem Nichts kommen und ins Nichts verhallen: eine sehr intensive Huldigung an Bruckners visionäre Chormusik. Kinzler als Bruckner der Moderne?
Die Aufnahmen entstanden im Radiostudio des SRF: eine Kirchenakustik mit langem Nachhall wäre vielleicht geeigneter gewesen, vielleicht weniger akkurat, aber eben ekstatischer.
Die Texte der lateinischen Motetten sind nicht abgedruckt und also auch nicht übersetzt. Sie wären zum Verständnis dieser „aufwühlenden visionären Schau“ (so wiederum Michael Wersin) hilfreich.
Rainer W. Janka [07.10.2022]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Giovanni Pierluigi da Palestrina | ||
1 | Ave Maria (à5) | 00:04:07 |
Anton Bruckner | ||
2 | Virga Jesse e-Moll WAB 52 | 00:03:36 |
3 | Tota pulchra es Maria WAB 46 (phrygisch; Antiphon) | 00:04:48 |
Burkhard Kinzler | ||
4 | Bruckner-Brücke I | 00:03:35 |
Anton Bruckner | ||
5 | Ecce sacerdos magnus WAB 13 | 00:06:15 |
6 | Christus factus est WAB 11 (Graduale) | 00:04:43 |
Giovanni Pierluigi da Palestrina | ||
7 | Jesu, rex admirabilis | 00:01:34 |
Anton Bruckner | ||
8 | Tantum ergo WAB 32 | 00:02:52 |
Giovanni Pierluigi da Palestrina | ||
9 | O bone Jesu | 00:02:39 |
Burkhard Kinzler | ||
10 | Bruckner-Brücke II | 00:02:04 |
Anton Bruckner | ||
11 | Os justi meditabitur sapientiam WAB 30 (Graduale) | 00:04:36 |
Giovanni Pierluigi da Palestrina | ||
12 | Exaudi, Domine | 00:03:00 |
Anton Bruckner | ||
13 | Locus iste C-Dur WAB 23 (Graduale) | 00:02:55 |
Burkhard Kinzler | ||
14 | Bruckner-Brücke III | 00:03:26 |
Anton Bruckner | ||
15 | Salvum fac populum tuum WAB 40 | 00:03:08 |
16 | Libera me WAB 21 | 00:02:45 |
17 | Ave Maria WAB 6 | 00:03:14 |
Interpreten der Einspielung
- The Zurich Chamber Singers (Chor)
- Christian Erny (Dirigent)