ODE
Hans Werner Henze
Works for Cello and Orchestra
Berlin Classics 0302768BC
1 CD • 69min • 2022
27.10.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Zu Lebzeiten war Hans Werner Henze einer der meistgespielten zeitgenössischen Komponisten, und seine Musik präsent zu halten, ist dem jungen Cellisten Isang Enders ein Anliegen. So stellt Enders’ neue CD faktisch Henzes Gesamtwerk für Violoncello und Orchester vor, wobei die Situation leicht unübersichtlich ist: nach der frühen Ode an den Westwind hat sich Henze seit den späten 1970er Jahren mehrfach Musik für Cello und Ensemble bzw. Orchester zugewandt, revidiert und neu kombiniert, aber schließlich anno 1992 als letztgültige Fassungen die hier eingespielten Englischen Liebeslieder sowie Introduktion, Thema und Variationen (Letzteres mit Harfe und Streichorchester) eingerichtet. Ergänzt wird das Programm durch Henzes Trauer-Ode für Margaret Geddes für sechs Celli. Begleitet wird Enders vom WDR Sinfonieorchester Köln, und während die Ode an den Westwind noch von der Dirigentin Lin Liao geleitet wird, steht in den übrigen Stücken aufgrund einer Corona-Quarantäne Liaos Jonathan Stockhammer als Einspringer am Pult.
Gesangliche Linien und klangliche Opulenz
Die Ode an den Westwind, 1953 in Italien entstanden, wird gerne als Werk betrachtet, mit dem sich Henze von den Nachkriegsavantgarde abwandte und zu einer traditioneller basierten, lyrisch-poetisch grundierten, ja romantischen Tonsprache fand (was eine Reihe orchestraler Eruptionen nicht ausschließt). Freilich: im Vergleich zu der großen Majorität der Komponisten jener Zeit handelt es sich dennoch um eine ziemlich avancierte Partitur, und wenn Henze z.B. immer wieder Einzeltöne in Klavier, Harfe und Schlagwerk aufleuchten und verklingen lässt, dann ist das sicherlich auch von punktueller Musik inspiriert, hier poetisch ausgedeutet. Gut 30 Jahre liegen zwischen diesem Werk und der Urfassung der Englischen Liebeslieder, und gerade ein Blick auf den Cellopart (horrend schwer z.B. mit häufigen Terzparallelen in hohen Lagen) verrät eine Reihe von Kontinuitäten. Andererseits stehen die Liebeslieder auch klar für Henzes Spätstil: durchzogen von gesanglichen Linien, die Kantilenen suggerieren, obwohl man letztlich eher selten von wirklich prägnanter Melodik sprechen kann, wie auch die im Vergleich zur Ode sicherlich stärkeren tonalen Bezüge eher Zitatcharakter haben und Henzes Musik im Grunde genommen atonal bleibt. Auffällig ist daneben – ebenfalls typisch für den späten Henze – das äußerst dichte orchestrale Gewand und polyphone Gewebe, eine klangliche Opulenz (die mit einer gewissen Tendenz zum Mäandern einhergeht), bei der das Soloinstrument stets ein wenig Gefahr läuft, überdeckt zu werden. Die Tempi sind in der Regel eher breit bis moderat, selbst bei einer Vortragsanweisung wie „Bewegt, heftig, stürmisch“ (Nr. 3). Ähnliches gilt trotz der kleineren Besetzung denn auch für die beiden anderen Stücke auf der CD.
Warmer, lyrisch-kantabler Tonfall
Enders’ Interpretationen dieser Werke sind insgesamt sehr gut geraten, der Cellist verfügt über einen warmen, weichen Ton, der insbesondere den Spätwerken gut zu Gesicht steht. Die Ode an den Westwind hat auch ihre expressionistischen Seiten, und hier würde ich Siegfried Palms kernigerer, gespannterer und von einem kräftigeren Grundton ausgehenden Lesart den Vorzug geben. Insgesamt aber legt Enders hier ein lyrisch engagiertes, den sanglichen Charakter von Henzes Musik betonendes Plädoyer für den Komponisten vor, kompetent unterstützt vom WDR Sinfonieorchester. Der Klang der CD ist solide, obwohl speziell in der Ode an den Westwind die Höhepunkte transparenter sein könnten, vgl. etwa im 2. Satz, wo die große Trommel zu sehr im Vordergrund steht. Ganz optimal ist die Balance innerhalb der Schlagzeuggruppe auch am Beginn des 4. Satzes nicht.
Die Henze-Rezeption im Lauf der Jahre
Das Beiheft legt einen besonderen Schwerpunkt auf Isang Enders’ Beziehung zu und Verständnis von Henzes Musik, ist allerdings in einigen Details nicht ganz stimmig (im rahmengebenden Zitat aus Henzes Autobiographie bezeichnet der Komponist m.E. nicht das Cello als „Hackbrett und Streichbrett“, sondern die Kombination aus Klavier (Hackbrett) und Cello (Streichbrett), in Introduktion, Thema und Variationen ist der Einsatz der Harfe keinesfalls nur auf die Einleitung beschränkt, und die Betrauterte in der Trauer-Ode hieß nicht Martina). So ganz einverstanden bin ich auch mit der These nicht, dass es um Henzes Musik nach seinem Tod arg still geworden ist: die Englischen Liebeslieder etwa sind mit der vorliegenden CD immerhin bereits zum dritten Mal (und sämtlich post mortem) eingespielt worden, was viel mehr ist, als man es sich bei den allermeisten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts erhoffen darf (man führe sich nur z.B. einmal vor Augen, dass Musik von Komponisten aus der früheren DDR der Jahrgänge 1930 abwärts kaum noch irgendeine Rolle spielt!). Will man Henzes Musik für Cello und Orchester kennenlernen, ist man mit dieser CD insgesamt aber ausgesprochen kompetent bedient.
Holger Sambale [27.10.2022]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Hans Werner Henze | ||
1 | Ode an den Westwind | 00:23:57 |
6 | Englische Liebeslieder | 00:24:54 |
12 | Introduktion, Thema und Variationen | 00:11:30 |
13 | Trauer-Ode für Margaret Geddes | 00:08:41 |
Interpreten der Einspielung
- Isang Enders (Violoncello)
- WDR Sinfonieorchester Köln (Orchester)
- Lin Liao (Dirigentin)
- Jonathan Stockhammer (Dirigent)