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Besprechung CD

Violeta Dinescu

Vuza Canons

gutingi 262

2 CD • 2h 25min • [P] 2023

24.02.2023

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 7
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 7

Ein Schwerpunkt des Göttinger Labels gutingi liegt auf der Musik der rumänisch-deutschen Komponistin Violeta Dinescu, die n diesem Jahr ihren 70. Geburtstag begeht. Ihrer Musik hat das Label bereits mehr als zehn CDs gewidmet, die somit eine veritable Werkschau ergeben. Das jüngste Album präsentiert – gewissermaßen direkt vom Schreibtisch, denn die Kompositionen wurden erst 2022 abgeschlossen – Dinescus Vuza-Kanons, neun Stücke von insgesamt 145 Minuten Spieldauer, die verschiedenste Besetzungen und Ensembles einbeziehen.

Der Vuza-Kanon als Struktur

Am einfachsten nachvollziehbar ist das Prinzip eines Vuza-Kanons bzw. Dinescus Auslegung davon – der Name bezieht sich auf den rumänischen Mathematiker Dan Tudor Vuza, der dieses Konzept entwickelt hat – anhand der Illustration auf dem Titelbild der CD, die zu Round Table II (CD 1, Track 3) gehört. Man sieht hier zwölf untereinanderliegende Reihen bzw. Systeme, die in jeweils 72 Einheiten unterteilt sind; in jeder Reihe sind einige Einheiten farblich markiert. Dies beschreibt die Struktur des Stücks, das aus 72 siebensekündigen Abschnitten besteht, die von zwölf „Stimmen“ bestritten werden. Dabei erklingt stets nur eine einzige Stimme (hier mag man sich leicht vom Titel „Kanon“ täuschen lassen!), und dies ist eben genau diejenige, die farblich hervorgehoben ist. Man sieht dabei, dass die Einsätze aller zwölf Stimmen auf derselben Gesetzmäßigkeit beruhen (besonders gut nachvollziehbar anhand der sieben unteren Systeme; bei den fünf oberen muss man Anfang und Ende des Systems miteinander identifizieren und erhält wieder dasselbe Schema). Die Zahlenfolge dahinter ist der sogenannte „interne Rhythmus“, während die Abstände, mit denen die einzelnen Stimmen (im Vergleich zum untersten System) ihre Einsätze beginnen, der sogenannte „externe Rhythmus“ ist (erneut: dies sind also keine Rhythmen im herkömmlichen Sinne!). Dabei sind interner und externer Rhythmus nicht-periodisch, also stark vereinfacht: es ist z.B. nicht möglich, eine Stimme zu jeder sechsten Zeiteinheit erklingen zu lassen oder die neuen Stimmen in Sechserabständen o.ä. einzuführen.

Stimmen, Selbstzitate und Montagen

Der Begriff „Stimme“ ist nicht notwendigerweise homophon zu begreifen, es kann sich hierbei um ein Ensemble handeln oder um Auszüge aus einem Musikstück. In den zartvioletten Abschnitten im dritten System von unten spielt z.B. das Duo Conradi-Gehlen Ausschnitte aus Dinescus Im Anhang findest Du..., in den grünen Abschnitten zwei Systeme weiter oben singt Markus Schäfer Fragmente aus ihrer Dante-Vertonung Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt. Insbesondere verwenden die Vuza-Kanons also auch Material aus älteren Werken Dinescus, und so wird man (natürlich) den bekannten Elementen ihrer Tonsprache wiederbegegnen: den statischen, quasi-improvisatorischen, wie deklamiert klingenden Passagen, den plötzlichen Eruptionen und (Schlagzeug-) Gewittern, der frei-assoziativen Gestaltung, dem Spiel mit Stimme und Sprache, aber auch Archaismen, Verwendung von urtümlich anmutenden Folklorismen. Die vier als Round Table bezeichneten Stücke sind strikte Vuza-Kanons im oben beschriebenen Sinne, die übrigen Stücke gehen mit diesen Prinzipien freier um und ergänzen die Struktur um weitere, nun zeitgleich ablaufende Stimmen, die sich gerne melismatisch winden wie etwa die Solovioline in Transparency I oder die Cello-Kantilene in 1989–1990 (referenzierend auf die Jahre, in denen Vuza seine Ergebnisse präsentierte). Bei alledem ist jedoch fraglich, ob die strenge Gesetzmäßigkeit, die Zwangsläufigkeit des Konstruktionsprinzips wirklich vom Hörer so wahrgenommen wird (etwa im Sinne einer Fuge): der bei weitem dominierende Eindruck ist doch eindeutig der einer Collage, einer Aneinanderreihung von Samples. Mir ist nicht ganz klar, ob die neun Stücke als Zyklus zu betrachten sind; falls ja, ist er m.E. entschieden zu lang und auch anstrengend zu hören, zumal etliches mehrfach verwendet wird (so wird man auf der zweiten CD z.B. immer wieder „Je suis François“ vernehmen).

Engagiert-überschwängliches Beiheft

Das Beiheft ist gewiss mit viel Liebe und Engagement verfasst, hat aber erhebliche Längen und mystifiziert vieles doch arg: aus Sicht eines Mathematikers mutet es schon seltsam an, diese Disziplin als „hochabstrakten geistigen Schutzraum“ (für Dinescu) bezeichnet zu sehen; darüber, dass der Nicht-Gleichzeitigkeit der Stimmen in einem Vuza-Kanon und der stets gleichen Dauer eines jeden Einsatzes mehr oder minder eine demokratische Komponente attestiert wird („Diskussionen auf Augenhöhe“, „ein wahrhaft utopisches Modell“), könnte mit Blick auf traditionelle Polyphonie leicht polemisiert werden.

Holger Sambale [24.02.2023]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Violeta Dinescu
1Round Table I (Vuza Canon für 6 Stimmen mit internem und externem Rhythmus) 00:08:19
2Transparency I (Zweimal Vuza Canon für 6 Stimmen mit Solovioline) 00:12:27
3Round Table II (Vuza Canon für zwölf Stimmen mit internem und externem Rhythmus) 00:08:17
4Transparency II (Dreifach Vuza Canon für sechs Stimmen mit einer Kanonfolge anderer Stimmen) 00:26:03
51989-1990 (Vuza Canon für zwölf Stimmen mit 3 Violoncelli im Kanon) 00:17:20
CD/SACD 2
1Round Table III (Vuza Canon für sechs Stimmen mit internem und externem Rhythmus) 00:14:08
2Round Table IV (Vuza Canon für 18 Stimmen mit internem und externem Rhythmus) 00:14:25
3Transparency III (Dreifach Vuza Canon für 18 Stimmen mit Mezzosopran und Klarinette) 00:30:32
4Who Called The Wolf (Dreifach Vuza Canon für 18 Stimmen mit einer Kanonfolge anderer Stimmen) 00:14:56

Interpreten der Einspielung

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