Nach Archilochos und Isaiah Berlin kennt der Fuchs viele verschiedene Sachen, der Igel nur eine große. Dieser Einteilung der Künstler und Denker folgend, erscheint der Wiener Komponist Wilhelm Grosz, der, nachdem er vor den Nationalsozialisten hatte fliehen müssen, 1939 viel zu früh im amerikanischen Exil starb, als archetypischer „Fuchs“. Sein Schaffen erstreckt sich auf eine Vielzahl unterschiedlichster Gebiete und spiegelt die Vielseitigkeit seines Autors wieder, der mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über Mozarts Fugen promoviert wurde, als Pianist wie als Dirigent gleichermaßen erfolgreich war, und schließlich zur Ultraphon-Schallplattengesellschaft fand, für die er bis 1933 als Aufnahmeleiter arbeitete. Gleichermaßen traditionsbewusst wie aufgeschlossen für neue Möglichkeiten künstlerischer Aussage, war Grosz das Gegenteil eines weltabgewandten Künstlers, der im stillen Kämmerlein für sich allein und vielleicht noch einen Zirkel Eingeweihter schreibt.
Nahuel Di Pierro Ensemble Diderot | Johannes Pramsohler
Audax Records ADX11210
1 CD • 74min • 2023
14.01.2025 • 9 10 9
„Väter, Götter, Philosophen, Kaiser, Zauberer ... Die Bassstimme wird auf der Opernbühne meist eingesetzt, um Adel und Autorität zu vermitteln. Obwohl sie oft den Ruhe- und Angelpunkt einer gesamten Oper bildet und ihre Tiefe, Kraft und Sanftheit bereits im Barock regelmäßig hervorgehoben wurden, stehen Basssänger meist nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. In diesem für Nahuel Di Pierro maßgeschneiderten Rezital tritt die Bassstimme … ins Rampenlicht“. So stellt das Label Audax seine Veröffentlichung mit Arien für Bass und opernhafter Orchestermusk vor. Dabei kommt der Stimme von Nahuel Di Pierro besondere Bedeutung zu: Sein volltönender Bass erfüllt dieses Programm mit klanglichem Leben.
Mit Paul Büttner (1870‒1943) widmet sich der Dirigent Jörg-Peter Weigle einem der vielen heute vergessenen Komponisten, die im zwanzigsten Jahrhundert die Symphonik in klassisch-romantischer Tradition weitergeführt haben. Der Dresdner Büttner stammte aus einfachen Verhältnissen, was sich in seinem jahrzehntelangen Einsatz für die musikalische Bildung der Arbeiterschaft widerspiegelt und den seit 1907 mit Unterbrechungen am Dresdner Konservatorium wirkenden Pädagogen – ab 1924 als künstlerischer Direktor – und bekennenden Sozialdemokraten unter den Nazis 1933 die Stellung kostete. Seine musikalisch völlig unbedenkliche Kunst war fortan unerwünscht. Büttners jüdische Frau Eva saß ab 1922 sogar für die SPD im sächsischen Landtag, überlebte nach dem Tod ihres Gatten den Rassenwahn nur mit Glück und setze sich später in der DDR für die Pflege von dessen Werk ein. Trotzdem schaffte es bislang nur eine ältere Eterna-Aufnahme von Büttners 4. Symphonie auf CD (Sterling).
In den 1930er Jahren verhalf der russische Komponist Alexander Glasunow der neuartigen Besetzung von vier Saxophonen verschiedener Register zum Durchbruch. Seither wurde daraus eine Standardformation der Kammermusik, der sich auch das Audax Saxophonquartett verpflichtet fühlt. Die vier Damen an Sopran-, Alt-, Tenor- und Baritonsaxophon machen sich entschlossen auf den Weg, um ihrem Namen gerecht zu werden – das lateinische „audax“ heißt „mutig“. Christina Bernard, Ann-Kathrin Grammel, Annalena Neu und Regina Reiter lernten sich als Musikstudentinnen in Würzburg kennen. 2019 vereinten sie sich zum Audax Saxophonquartett. Drei Jahre später erschien ihre Debüt-CD, eine Verbeugung vor Glasunow, dem erwähnten Pionier des klassischen Saxophons.
Ähnlich wie der nur wenige Monate jüngere, lange überschätzte Heinrich von Herzogenberg (1843-1900), oder der 12 Jahre später geborene Heinrich XXIV. Prinz Reuss von Köstritz (1855-1910, nicht zu verwechseln mit dem derzeit wegen Revolutionsfantasien verhafteten gleichnamigen heutigen Prinzen), ist Hans Heinrich XXIV. Bolko Graf von Hochberg (1843-1926) einer jener Adligen, welche den hohen Stand der gelehrten Kompositionskunst konservativ-klassizistischer Couleur der Zeit zwischen Bruckner/Brahms und Mahler/Strauss im deutschsprachigen Raum belegen. Der gebürtige Schlesier studierte bei dem Kontrapunktpapst Friedrich Kiel in Berlin, gründete 1876 die Schlesischen Musikfeste und war von 1886 bis 1902 General-Intendant der Königlichen Schauspiele in Berlin, also auch der Preußischen Hofoper, wo er 1898 Richard Strauss als Hofkapellmeister engagierte.
Vor ein paar Jahren haben der Bariton Christian Hilz und der Pianist und Dirigent Dorian Keilhack, die sich schon seit der Schulzeit kennen, eine CD mit Liedern des ehemaligen Bratschisten Eberhard Klemmstein (Jg. 1941) aufgenommen, der erst im reifen Alter zu komponieren begann und in den letzten vier Jahrzehnten ein sehr vielseitiges Œuvre geschaffen hat (vgl. KH v. 12.01.2023 www.klassik-heute.de/4daction/www_medien_einzeln?id=24225&Kompo44147). Das nun vorgelegte zweite gemeinsame Album kann in gewisser Weise als Fortsetzung gelten, diesmal konfrontiert es sieben Klemmstein-Lieder aus jüngster Zeit mit acht thematisch verwandten Liedern von Franz Schubert und schlägt damit eine Brücke über zwei Jahrhunderte.
Die dänische Flötistin Clara Guldberg Ravn hat schon mit Aufnahmen von Flötensonaten des dänischen Komponisten Morten Ræhs aufhorchen lassen. Jetzt hat sie eine weitere CD mit Flötenkonzerten aus dem Barock vorgelegt, in deren Booklet sie schreibt: „Ich hoffe, Sie haben Freude daran, unsere CD anzuhören.“ Und in der Tat: Es ist eine wahre Freude, diese CD anzuhören! Die Flötistin verwendet für jedes Konzert eine andere Blockflöte – alles ist sorgfältig dokumentiert im liebevoll gestalteten und kenntnisreich gehaltenen dreisprachigen Booklet. Die Abfolge der vier Konzerte (die im Booklet allerdings eine andere ist) ist nach dramaturgischen Grundsätzen gehalten: Die Dramatik steigert sich von Konzert zu Konzert. Clara Guldberg Ravn beherrscht ihr Instrument bzw. alle verwendeten Instrumente mühelos und meisterhaft, es sind keine Griffgeräusche, sie scheint nie zu atmen, alles scheint auf einem ewigen Luftstrom zu schweben.
Das mit 12 Sängern, Violinen, Violen, Dulzian, Zinken (Cornetti), Posaunen, Lauten und Orgel prachtvoll besetzte Ensemble 1684 legt unter der Leitung des Gewandhauschorleiters Gregor Meyer seine dritte CD mit Werken von Johann Rosenmüller (1619-1684 (sic!)) vor. Rosenmüller beeinflusste die deutsche Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts in hohem Maße, indem er die neusten Errungenschaften venezianischer Komponisten in meisterlicher Weise übernahm. Zudem gehörte er zu den „schillerndsten Persönlichkeiten“ unter den Komponisten.
Sollte der Name Pierrette Mari nicht jedem geläufig sein, wäre das keine Schande. Auch eingefleischten Kennern der französischen Musikgeschichte dürfte er nicht unbedingt etwas sagen. Und das, obwohl die Komponistin sich stehts im Dunstkreis der musikalischen Heroen des 20. Jahrhunderts bewegt und beispielsweise die erste Biographie über Olivier Messiaen verfasst hat. Doch weder ihr Name noch ihre Musik sind – zumindest hierzulande – wirklich bekannt. Geboren 1929, studierte sie unter anderem mit Messiaen am Pariser Conservatoire, lehrte später Musikgeschichte und verfasste auch Bücher über Béla Bartók und Henri Dutilleux.
Wer immer noch meint, barocke Musik sei bloße abstrakte Musik und keine „Programmmusik“, sollte sich auf dieser CD zuerst den Schluss anhören, insbesondere die Tracks 25-29: Diese fünf Sätze aus dem Stück mit dem nichtssagenden Titel Introduzione a tre aus Der getreue Musikmeister von Georg Philipp Telemann sind fünf Frauen-Porträts aus der Geschichte bzw. Mythologie, deren Wesen und Schicksal hier musikalisch geschildert wird: das Keifen von Xanthippe, der angeblich streitsüchtigen Ehefrau von Sokrates, das Klagen von Lukretia, die von Tarquinius vergewaltigt worden ist, das vielfältig-gescheite Wesen der griechischen Lyrikerin Corinna, die Wellen des Tibers, den die heroische Römerin Cloelia durchschwamm, und das Schwanken zwischen Verzweiflung und Trauer der von Aeneas verlassenen Dido.
Bereits vor drei Jahren veröffentlichten Robert Trevino und das Baskische Nationalorchester eine CD mit dem Titel "Americascapes". Nun gibt es eine zweite Veröffentlichung unter diesem Motto, mit dem Zusatz "American Opus". Auch wenn dieser Name vielleicht nicht allzu viel ausdrückt: Wie bei der ersten Folge fällt äußerst positiv auf, dass der Dirigent nicht die "üblichen Verdächtigen" ausgesucht hat, die man immer wieder in Amerika-Programmen zu hören bekommt (etwa Bernsteins West Side Story-Tänze oder Coplands Appalachian Spring), sondern wenig aufgeführte Musik von Komponisten, die nach wie vor (nicht nur auf dem Tonträgermarkt) unterrepräsentiert sind.
Felix Mendelssohn attestierte dem Zürcher Komponisten Johann Carl Eschmann (1826-1882) ein „unverkennbares, bedeutendes Talent“. Dennoch ist er sogar in seiner Schweizer Heimat ein Unbekannter geblieben. Die Pianistin Anna Reichert will das ändern, indem sie Eschmann ihr neues Album widmete. Sie beschäftigte sich schon vor zehn Jahren bei ihrem Master-Abschluss an der Zürcher Hochschule der Künste mit Eschmanns Klavierwerk Eschmanns. Seither steht dessen Musik im Zentrum ihres Schaffens. Den klugen, informativen Text im Beiheft hat die Pianistin selbst geschrieben.
Das Kunstlied war eine zentrale Gattung in der kroatischen Musik des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, doch wurde das bei uns bis vor kurzem nicht zur Kenntnis genommen. Die Mezzosopranistin Nataša Antoniazzo und die Pianistin Mia Elezović haben mit zwei Recitals in der ANTES Edition diese Wissenslücke zu füllen versucht und neugierig gemacht auf weitere Erfahrungen mit dieser Musik. Ein ausschließlich dem kroatischen Komponisten Blagoje Bersa gewidmetes Doppelalbum, von Krešimir Stražanac (Bassbariton) und Krešimir Starčević (Klavier) gestaltet, vertieft nun diese ersten Eindrücke.
Johann Christoph Schmidt (1664-1728) gehört zur Riege der ebenso unverdient wie gründlich vergessenen deutschen Barockkomponisten. Dabei wirkte er von 1692 bis zu seinem Tod in verantwortlichen musikalischen Stellungen am Hof des sächsischen Kurfürsten und späteren polnischen Königs August des Starken. Das war keine geringe Verantwortung, war August doch gewillt, seinen Hof zum Abbild von Versailles, der Residenz des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. zu machen: Der Zwinger legt in Dresden bis heute Zeugnis dafür ab. Da musste natürlich auch die Musik stimmen, so schickte der noch nicht königliche Kurfürst 1692 seinen begabten zweiten Hoforganisten für drei Jahre zu einem Studienaufenthalt nach Italien – eine damals gebräuchliche Vergünstigung für musikalisch hochbegabte Landeskinder.
Die neueste CD des Trumpet Consort unter der Leitung von Matthias Höfs demonstriert auf anregende Weise das außergewöhnliche Können und die Vielseitigkeit dieses Ensembles, das aus Matthias Höfs’ eigener Trompetenklasse an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg hervorgegangen ist. Besonders inspirierend dürfte zudem die Begegnung der Generationen wirken, denn nicht nur Studierende, sondern auch Alumni – also Ehemalige – haben sich für dieses gemeinsame Projekt engagiert. Ein weiteres verbindendes Element entsteht durch den programmatischen Streifzug durch die musikalischen Epochen vom Barock bis in die Moderne, wobei ein strahlend festlicher Klang als gemeinsamer Nenner immer wieder herauszuhören ist.
Neapolitanische Kanzonen gehören seit Enrico Caruso zum festen Repertoire aller italienischen Opernsänger, insbesondere der Tenöre. Der junge Bariton Daniel di Prinzio (Jg. 1998) und der kaum ältere Gitarrist Ihor Kordiuk (Jg. 1992) zeigen in ihrem ersten Album die Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert auf, kombinieren dabei bekannte und weniger bekannte Titel und stellen jedem der Lieder kurze Stücke aus Mes fleurs chéries op. 46 des neapolitanischen Gitarren-Virtuosen Mauro Giuliani (1781-1829) voran, in denen Eigenarten und Schönheiten unterschiedlicher Blumen mit musikalischen Mitteln phantasievoll charakterisiert werden. Die Verbindung der Lieder mit den Instrumental-Soli geht auch in stilistischer Hinsicht harmonisch auf.
Amanda Forsythe präsentiert mit dem Boston Early Music Festival Orchestra unter der gemeinsamen Leitung von Stephen Stubbs (Konzertmeister) und Paul O’Dette (Continuo-Theorbe) auf einer mit über 80 Minuten prallgefüllten CD Werke von Georg Philipp Telemann. Neben der Kantate Ino – ein äußerst kraftvolles Alterswerk des 84-Jährigen, das in den Accompagnato-Rezitativen Christoph Wilibald Gluck langweilig wirken lässt – stehen makellos ausgeführte Arien aus der Zeit von Telemanns Wirken als Direktor der Hamburgischen Oper am Gänsemarkt aus Damon, Flavius Bertaridus, Emma und Eginhard sowie Germanicus auf dem Programm.
Discovering the Italien Style in Handel's London The Counterpoints & friends
Challenge Classics CC720003
1 CD • 72min • 2024
29.12.2024 • 9 10 8
Das niederländische Ensemble The Counterpoints, das sich der „frühen Musik“ verschrieben hat, möchte mit seiner neuen CD den Einfluss der italienischen Musik auf das Schaffen Händels und seiner Zeitgenossen aufzeigen. So begegnen sich Komponisten wie Alessandro Scarlatti und Henry Purcell, Antonio Vivaldi und Maurice Green, Francesco Geminiani und John Eccles. Und Händel war letztlich ein grenzüberschreitender Komponist, der deutsche, italienische und englische Elemente in seiner Musik vereinte. Der Reiz der neuen Einspielung liegt darin, dass verschiedene historische Instrumente im Einsatz sind. Neben dem Blockflötisten Thomas Triesschijn und dem Cembalisten Aljosja Mietus, die das Ensemble gegründet haben, wirken die Cellisten Petr Hamouz und Anne-Linde Visser sowie der Gitarrist und Theorbenspieler Giulio Quirici mit. Außerdem ist die amerikanisch-koreanische Sopranistin Kristen Witmer mit Solokantaten zu hören.
Der Deutsch-Italiener Ermanno Wolf-Ferrari (1876 – 1948) ist durch seine im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstandenen komischen Opern wie Die neugierigen Frauen, Die vier Grobiane oder Susannes Geheimnis bekannt geworden. Dass der Komponist auch eine Reihe von Kammermusikwerken geschaffen hat, vor allem in jungen Jahren, erfährt man durch die CD-Reihe Preziosa, die bei MDG, der Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, veröffentlicht wird. Aufnahmen, die 1988 im historischen Reitstadel zu Neumarkt gemacht wurden, liegen jetzt klanglich einwandfrei in einem CD-Album vor
Mit seiner aktuellen CD-Einspielung schließt das Duo Praxedis ein groß angelegtes Projekt ab, nämlich die Gesamteinspielung der Duos für Harfe und Klavier des walisischen Harfenisten und Arrangeurs John Thomas (1826 – 1913). Der Komponist machte eine bemerkenswerte Karriere: Bereits im Alter von 13 Jahren studierte er mit der Unterstützung von Lord Byrons Tochter Harfe an der Royal Academy of Music. Bereits kurze Zeit später trat er öffentlich auf und ging auf Orchestertourneen. 1861 wurde er Hauptmusiker von Wales und 1872 der offizielle Harfenist von Queen Victoria. Als solcher gehörte es nicht nur zu seinen Aufgaben, Musik zu interpretieren und neue zu schreiben, sondern auch, bekannte Werke der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig zu machen. Das bedeutete eben auch, die Gassenhauer der damaligen Zeit so zu arrangieren, dass sie im kleinen Rahmen vor der Queen zu Gehör gebracht werden konnten.
Luisa Imorde hat Recht: Auch wenn sie die Intermezzi op. 119 von Johannes Brahms liebt und verehrt, wie sie im Booklet zitiert wird, meint sie, diese aufzunehmen, sei ihr „zu klassisch, das gibt es schon zu oft.“ Deswegen bettet sie diese Intermezzi in „eine ästhetische und musikalische Kontextualisierung“ ein, sprich, sie verschränkt sie mit der Suite in B-Dur HWV 434 von Georg Friedrich Händel – der Suite, aus dessen Aria Brahms das Thema seiner Händel-Variationen genommen hat. „Variations on Brahms“ hat die Pianistin folgerichtig ihr Konzept-Album genannt, das fünfte in dieser Art. Die Intermezzi sind die einzigen Original-Kompositionen von Brahms, denen sie Werke aus dem Barock gegenüberstellt, die Brahms gekannt, gespielt oder bewundert oder sogar bearbeitet hat, so das Presto aus Bachs BWV 1001, der Violinsonate Nr. 1.
Fällt der Name Liechtenauer, werden ihn Mittelalter-Fans mit dem Vater der Fechtkunst, auf den sich alle späteren Traktate der Fechtmeister berufen, assoziieren. Paul Ignaz Liechtenauer (1673/74-1756) war hingegen ein Wiener, der ab 1715 am Dom zu Osnabrück wirkte. Von seinen Werken haben sich nur zwei Drucke mit 24 Offertorien und 6 Messen aus den Jahren 1736 und 1741 und ein Oboenkonzert erhalten. Vier dieser Messen hat jetzt die Kölner Akademie unter Michael Alexander Willens eingespielt. Diese könnten sich durchaus als von der Länge her gottesdiensttaugliche, prunkvoll-barocke Alternativen zu den Salzburger Messen Mozarts im Repertoire bewähren.
Der russische Pianist Evgeni Koroliov, 1949 in Moskau geboren und seit 1978 in Hamburg lebend und wirkend, gilt (bei aller Breite seines Repertoires) seit jeher als Bach-Spezialist erster Güte; gerne und häufig wird Ligetis hymnisches Lob von Koroliovs Einspielung der Kunst der Fuge zitiert. War diese Einspielung im Jahre 1990 eine der ersten Tacet-Produktionen überhaupt, so hat Koroliov seitdem zwar eine ganze Reihe von Bach-CDs mit den Goldberg-Variationen, beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers und den Französischen Suiten folgen lassen. Insgesamt aber lässt und nimmt sich Koroliov Zeit für neue Einspielungen, und nachdem (wenn man so will: erst) 2020 die Partiten Nr. 1, 2&6 erschienen, folgen auf dem jüngsten Album nun ihre drei Schwesterwerke (Nr. 3 bis 5).
Richard Rösslers Werke sind Raritäten, deren Erkundung sich lohnt. Rössler, der 1880 in Riga geboren wurde, gehört zu den spätromantischen Komponisten im Fahrwasser von Johannes Brahms. Das Wiener Artis-Streichquartett, der Pianist Oliver Triendl sowie zwei Bläser-Kollegen bringen nun eine Ersteinspielung zweier kammermusikalischer Werke Rösslers auf den Markt. Es handelt sich um eine Koproduktion des Labels cpo, das sich immer wieder um vergessene Musik verdient macht, mit dem Bayerischen Rundfunk. Richard Rössler, Sohn eines böhmischen Kapellmeisters, studierte an der Berliner Musikhochschule. Hier war er bis in die fünfziger Jahre hinein selbst als Klavierprofessor tätig und hatte zahlreiche namhafte Schüler.
Frauen spielen Musik von Frauen – wobei sie sich auf das feministische Engagement der Dichterin Virginia Woolf berufen, die vor allem mit ihrem Werk A room of one’s own (Ein Zimmer für sich allein) wesentliche Impulse für die Frauenbewegung gab. Denn es war nicht nur mangelndes Selbstvertrauen, sondern vor allem mangelnde Anerkennung, was Frauen oft am öffentlichen Auftreten als Komponistinnen und Interpretinnen hinderte. Das Programm des Albums ist weit gestreut, es reicht von der Renaissance bis zur Moderne, bietet neben Originalwerken mehrere Bearbeitungen von Gesängen aller Art. Karla Haltenwanger (Klavier), Birgit Erz (Violine) und Ilona Kindt (Violoncello), die seit siebzehn Jahren als „Boulanger Trio“ musizieren, gestalten die ausgewählten Kompositionen mit spürbar starkem Engagement und feiner Abstimmung.
24 Preludes in all major and minor keys Nuron Mukumi
Prospero Classical PROSP0106
1 CD • 71min • 2024
21.12.2024 • 10 10 10
Die starke Beachtung, die das Schaffen des britischen Komponisten York Bowen seit einigen Jahren wieder erfährt, gründet sich nicht zum geringsten Teil auf sein umfangreiches Œuvre für Klavier. Unter den entsprechenden Werken haben namentlich die 24 Präludien op. 102 starken Anklang gefunden, die mehrfach ganz oder auszugsweise auf CD eingespielt worden sind. Die Gesamtaufnahme, die der junge deutsch-usbekische Pianist Nuron Mukumi bei Prospero vorgelegt hat, ist (wenn ich keine übersehen habe) bereits die vierte ihrer Art.
Der luxemburgische Vibraphonist Pascal Schumacher und die deutsch-griechische Pianistin Danae Dörken haben sich für eine Hommage an Philip Glass zusammengetan. Allerdings hat der amerikanische Pionier der Minimal Music für die Duo-Besetzung von Vibraphon und Klavier keine Werke hinterlassen. Das Album „Glass Two“, das beim Label Neue Meister auf CD und Vinyl erscheint, vereint daher neue Arrangements der minimalistischen Kompositionen mit Schumachers eigenen Werken.
The Norwegian Seasons Ragnhild Hemsing • Barokkanerne
Berlin Classics 0303416BC
1 CD • 56min • 2024
19.12.2024 • 10 10 10
Antonio Vivaldis Violinkonzerte Die vier Jahreszeiten sind mit Abstand sein bekanntester Werk-Zyklus. Und das bei einem Komponisten, dem (böse) Kritiker nachsagen, er habe ein Konzert gleich mehrere hundert Male geschrieben, weil sie sich so ähneln. Stellt sich also durchaus die Frage, ob und wenn ja, was man bei Vivaldi denn noch Neues entdecken kann. Und doch ist dies der jungen norwegischen Geigerin Ragnhild Hemsing mit ihrer neuen Aufnahme gelungen. Denn bereits zu Beginn ihrer Karriere zeichnete es sie aus, dass sie gleichermaßen auf der Hardangerfidel als auch auf der klassischen Violine konzertierte – gerne auch mal in ein und demselben Konzert. Da sie parallel zu ihrer Karriere in der klassischen Welt immer auch in der norwegischen Folklore unterwegs und zu Hause war, entstand die Idee für ihr neues Projekt: Wie würden Vivaldis wohlbekannte Vier Jahreszeiten wohl auf der Hardangerfidel klingen?
Johannes Motschmann, Jahrgang 1978, ist offensichtlich jemand, der sich gerne in musikalischen Grenzbereichen aufhält: zwischen Klassik und Pop (inklusive eigener Band), herkömmlichen Besetzungen und elektroakustischer Musik, und seit einiger Zeit auch mit einem regen Interesse an Schnittstellen zwischen Musik und künstlicher Intelligenz, einer Thematik, mit der er sich u.a. seit 2020 als Stipendiat des SWR Experimentalstudios befasst. Das vorliegende neue Album ist Motschmanns erstes Album für Klavier, eine Zusammenstellung eigener Werke, die durch eine Reihe von Stücken von Bach bis Pärt gewissermaßen kontextualisiert werden. Natürlich haben dabei die oben beschriebenen Schwerpunkte ihre Spuren in der Musik hinterlassen.
2016 gegründet und überwiegend im Raum Westfalen-Lippe erfolgreich tätig, hat sich das Ensemble Seicento Vocale auf die Chormusik des Frühbarock spezialisiert. Auf ihrer ersten CD präsentiert es sich nun überraschend mit Kompositionen zwischen Romantik und klassischer Moderne, die allerdings auf Ereignisse des 17. Jahrhunderts zurückgreifen, den Dreißigjährigen Krieg und den Ungarnkrieg 1663. Die „Friedensrufe“, die das Programm ankündigt, das schon vor sechs Jahren und damit in weitgehend friedlicher Zeit konzipiert wurde, haben heute wieder eine hohe Aktualität gewonnen.