Žibuoklé Martinaityté
Aletheia
Choral Works
Ondine ODE 1447-2
1 CD • 60min • 2023
07.12.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Musik aus dem Baltikum darf mittlerweile als einer der Schwerpunkte des finnischen Labels Ondine gelten, ebenso wie (seit jeher) die Förderung zeitgenössischer Komponisten. Hieran knüpft auch das jüngst erschienene dritte Album mit Musik der litauischen, nun schon seit längerer Zeit in New York lebenden Komponistin Žibuoklė Martinaitytė (Jg. 1973) an; diesmal stehen vier ihrer A-Cappella-Chorwerke auf dem Programm. Das Baltikum verfügt bekanntlich über eine sehr reiche Tradition des Chorsingens, und mit dem Lettischen Rundfunkchor unter der Leitung von Sigvards Kļava konnte einmal mehr ein hervorragendes Vokalensemble aus dieser Region gewonnen werden.
Stimmen als Instrumentarium verstanden
Offenbar hat die Komposition von Chormusik a cappella speziell in den letzten Jahren Martinaitytės Interesse geweckt: abgesehen von einigen Volksliedarrangements, wohl noch ein Jugendwerk und hier nicht vertreten, hat sich die Komponistin 2010 erstmals dieser Besetzung gewidmet, ab 2018 dann deutlich verstärkt mit gleich drei neuen Werken. Eine Besonderheit ihres Ansatzes ist, dass keines der vier Werke auf Texten basiert, sondern stets freie Kombinationen von Vokalen und Konsonanten verwendet, quasi onomatopoetisch, frei assoziativ, am Klang orientiert, die Stimmen der Sänger eher als Instrumentarium denn als Träger von Semantik verstehend. Dies schließt eine Inspiration durch literarische Vorlagen (wie in The Blue of Distance) oder gegenwärtige Ereignisse (wie den Ukrainekrieg wie in ALETHEIA oder Ululations) nicht aus, verlagert diese Konnotationen aber auf eine abstraktere, emotionale Ebene.
Ruhig-elegisches Erschließen von Klangräumen
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass zwischen Martinaitytės Chorwerken und ihrer Instrumentalmusik wesentliche Parallelen bestehen. Wer mit den Koordinaten ihres Stils etwa aus einem der beiden Vorgängeralben vertraut ist, wird etliches wiedererkennen: der Bezug zur Minimal Music bei dezidiert meditativer Grundhaltung, die (nicht selten diatonischen) Skalen, die sowohl für die Akkordik als auch für die ruhigen quasi-melodischen Wanderbewegungen ihrer Musik das Fundament bilden, die in aller Regel langsamen Tempi, innerhalb derer sich musikalische Prozesse oft fast in Zeitlupe abspielen und eine einzige Modulation ein intensiv ausgekostetes Ereignis sein kann. Chant des Voyelles (2018), ALETHEIA (2022) sowie Ululations (2023) beginnen jeweils mit einer Art Entfaltung, erschließen ausgehend von einzelnen Tönen allmählich einen Klangraum; ähnlich geschieht es auch in The Blue of Distance (2010), hier aber beginnend mit einem Mischklang, einer Art „Urnebel“. In der Regel erweitert Martinaitytė die Bandbreite traditionellen Gesangs um ausgewählte Elemente; in einigen der Stücke steht eines davon besonders im Fokus (Ululationen eben in Ululations, Spiel mit der Obertonreihe in Chant des Voyelles, und ALETHEIA arbeitet recht viel mit Glissandi), ohne dass dies als ausschließliches Gestaltungsmittel zu verstehen ist, Überschneidungen inbegriffen.
Vorzügliche Interpretationen
Da Ululations auf einer ululierten fallenden kleinen Sekunde (speziell a-gis zunächst innerhalb von d-moll), der klassischen Seufzergeste also aufbaut, ist das harmonische Profil hier etwas stärker chromatisch geprägt und entsprechend verschärft, aber im Grunde genommen sind alle vier Stücke in sehr ähnlichen atmosphärischen und emotionalen Sphären angelegt. In den drei jüngeren Partituren wird der ruhig-elegische Fluss jeweils einmal für eine Weile unterbrochen, um agitierten, anschwellenden Gesten Platz zu machen und zu einer Klimax geführt zu werden, besonders intensiv ausgeführt in ALETHEIA mit zusätzlichen lang gezogenen Seufzern und nach dem Höhepunkt einem Moment der Agonie, bei dem anstelle von Tönen nur Zischlaute übrig bleiben. Im Vergleich zu diesen drei Werken wirkt der musikalische Fluss in The Blue of Distance insgesamt eine Spur bewegter, allerdings eher im Sinne von Nuancen. Letztlich erscheint auch diese CD insgesamt sehr und m.E. zu homogen: die emotionale Intensität, die Martinaitytė (mit bewusst simplen Mitteln) anstrebt, geht zu Lasten von Vielfalt an musikalischen Situationen, erscheint eher als Prinzip denn als stilistische Position, die Möglichkeiten offen hält oder erschafft. So wird jedes der Werke und erst recht die gesamte CD irgendwann recht lang. Unabhängig davon bleibt festzustellen, dass der Lettische Rundfunkchor mit Kļava am Pult (der den Chor seit mittlerweile 32 Jahren leitet) diese Musik mustergültig zu realisieren versteht: Chorgesang von eindrucksvoller Homogenität, Intensität und mit vorbildlicher Sorgfalt herausgearbeiteter Linienführung und Dramaturgie. Für den fundiert informierenden Begleittext zeichnet einmal mehr der Martinaitytė-Experte Frank J. Oteri verantwortlich.
Holger Sambale [07.12.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Žibuoklė Martinaitytė | ||
1 | Aletheia | 00:15:10 |
2 | Chant des Voyelles | 00:16:28 |
3 | Ululations | 00:14:21 |
4 | The Blue of Distance | 00:12:51 |
Interpreten der Einspielung
- Latvian Radio Choir (Chor)
- Sigvards Kļava (Dirigent)