Johannes Motschmann
Préludes Tabelaux
Neue Meister 0303481NM
1 CD • 49min • 2024
18.12.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Johannes Motschmann, Jahrgang 1978, ist offensichtlich jemand, der sich gerne in musikalischen Grenzbereichen aufhält: zwischen Klassik und Pop (inklusive eigener Band), herkömmlichen Besetzungen und elektroakustischer Musik, und seit einiger Zeit auch mit einem regen Interesse an Schnittstellen zwischen Musik und künstlicher Intelligenz, einer Thematik, mit der er sich u.a. seit 2020 als Stipendiat des SWR Experimentalstudios befasst. Das vorliegende neue Album ist Motschmanns erstes Album für Klavier, eine Zusammenstellung eigener Werke, die durch eine Reihe von Stücken von Bach bis Pärt gewissermaßen kontextualisiert werden. Natürlich haben dabei die oben beschriebenen Schwerpunkte ihre Spuren in der Musik hinterlassen.
Auf den Spuren Rachmaninows und Skrjabins
Es ist gar nicht so einfach, das Programm präzise zu umschreiben, zumal sich der Begleittext auf zwei kurze Absätze (in englischer Sprache) beschränkt, die manche Detailfragen offen lassen; außerdem unterscheidet sich der Ansatz der jeweiligen Stücke zum Teil deutlich. Die Préludes Tableaux, auf die der Titel des Albums rekurriert, bilden das Zentrum des Albums; vier kurze Stücke von insgesamt knapp zehn Minuten Dauer. Motschmann möchte hier Skrjabins Préludes und Rachmaninows Études-Tableaux miteinander in Beziehung setzen, und (mindestens) bei der Analyse der entsprechenden stilistischen Merkmale hat er nach eigenen Angaben künstliche Intelligenz eingesetzt. Die entsprechenden Einflüsse sind in der Musik denn auch recht deutlich vernehmbar, jedenfalls kann man das Resultat grob und trotz (durchaus gewollter) leichter Brüche als eine Art Skrjabin- und Rachmaninow-Nachfolge bezeichnen. Die Genialität der Originale freilich, ihr (Einfalls-) Reichtum und ihre emotionale und psychologische Komplexität erreicht Motschmann nicht, und auch die eigentliche Nachfolge der beiden Komponisten, bei der man (stilistisch durchaus unterschiedlich positionierte) Namen wie Sergej Bortkiewicz, Anatoli Alexandrow, Alexej Stantschinski oder Samuil Feinberg und andere nennen könnte, hat wesentlich Bemerkenswerteres zu bieten.
Musik und Software in Interaktion
Das Album enthält darüber hinaus zwei Préludes von Motschmann (Nr. 1&4, also offenbar Teil eines anderen Zyklus), die eher mit dem Alain-Choral oder Pärts Für Alina, denen Motschmann sie hier gegenüberstellt, vergleichbar sind, einfach gehaltene, elegisch getönte, akkordisch geprägte Musik. Wieder in eine andere Kerbe schlagen drei weitere über die CD verteilte Stücke: die (Kompositions-) Software, die Motschmann mitentwickelt hat, nennt sich AION, und offensichtlich ist sie unter anderem mit einem Flügel verkoppelt, der sich Steinway Spirio-r nennt und es ermöglicht, gleichzeitig selbst zu spielen und mit der in Realzeit komponierenden Software zu interagieren. Dies geschieht auf dieser CD in den Stücken con spirio I&II, an Minimal Music (und auch diverse zeitgenössische Filmmusik) erinnernd, gerne mit glöckchenartigen Figuren in hohen Lagen und Haltetönen in den tiefen. Dabei hat Motschmann bereits eine CD (und mittlerweile sogar eine zweite) mit einem ganzen (recht umfangreichen) Werk namens AION für großes Ensemble, Künstliche Intelligenz und Live-Elektronik herausgebracht, und auch hier finden sich zwei Sätze namens con spirio I&II. Ein Vergleich mit den Stücken auf dem neuen Klavieralbum legt Parallelen nahe, erst recht bei Track 15, betitelt AION – Notturno (denn auch im „großen“ AION findet sich ein Notturno), tonal weniger gebunden als die beiden con spirio-Beiträge und mit einigen Längen. Musikalisch jedenfalls ist all dies zwar sicherlich unkompliziert rezipierbar, aber nicht sonderlich anregend oder nachhaltig erinnerlich.
Präferenz für elegische Stimmungslagen
Schließlich enthält die CD noch einige weitere kurze Stücke aus der Feder Motschmanns, bei denen es sich teilweise wohl um Improvisationen handelt; in der Regel ist die Atmosphärik wiederum leicht elegisch getönt, geprägt von absteigenden (Seufzer-) Gesten und lang nachhallenden Akkorden oder Liegetönen. Motschmanns Präferenz für solcherlei Stimmungslagen wird im übrigen durch die meisten der hier versammelten Werke anderer Komponisten (u.a. Schönberg op. 19 Nr. 5, Chopin op. 28 Nr. 6 oder Skrjabin op. 11 Nr. 21) unterstrichen. Track 4, ein Zwischenspiel Motschmanns, wird auf einem CP-70 gespielt, also einem (älteren) E-Piano-Modell; skurril wirkt, dass Motschmann auch das Präludium b-moll BWV 867 aus Bachs Wohltemperierten Klavier I auf ebendiesem E-Piano darbietet, eine Ästhetik, deren besonderer Reiz sich mir allerdings nicht erschließt.
Holger Sambale [18.12.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johannes Motschmann | ||
1 | Préludes I | 00:02:24 |
2 | con spirio I | 00:03:41 |
Jehan Alain/Johannes Motschmann | ||
3 | Choral cistercien | 00:01:36 |
Johannes Motschmann | ||
4 | CP70-Interlude | 00:03:25 |
5 | Préludes IV | 00:02:35 |
Arvo Pärt | ||
6 | Für Alina | 00:03:08 |
Johannes Motschmann | ||
7 | con spirio II | 00:03:31 |
Arnold Schönberg | ||
8 | Sechs kleine Klavierstücke op. 19: VI. Sehr langsam | 00:01:22 |
Johannes Motschmann | ||
9 | Préludes Tableaux I | 00:01:18 |
10 | Préludes Tableaux II | 00:01:54 |
11 | Préludes Tableaux III | 00:04:05 |
12 | Préludes Tableaux IV | 00:02:14 |
Frédéric Chopin | ||
13 | Prélude h-Moll op. 28 Nr. 6 – Lento assai | 00:02:13 |
George Benjamin | ||
14 | Spell (aus Piano Figures. Ten pieces for solo piano) | 00:01:02 |
Johannes Motschmann | ||
15 | AION (Notturno) | 00:07:11 |
Johann Sebastian Bach | ||
16 | Präludium b-Moll BWV 867 (aus: Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869) | 00:03:23 |
Johannes Motschmann | ||
17 | de très loin | 00:01:46 |
Alexander Scriabin | ||
18 | Prélude B-Dur op. 11 Nr. 21 | 00:01:52 |
Interpreten der Einspielung
- Johannes Motschmann (Klavier)