Chant du Ménestrel
Rachmaninoff • Tchaikovsky • Glazunov • Shor • Arutiunyan • Baghdarsaryan
Narek Hakhnazaryan • Wiener Symphoniker • Tigran Hakhnazaryan

Ars Produktion ARS 38 683
1 CD • 69min • 2018
02.09.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Seit er 2011 im Alter von erst 22 Jahren den 1. Preis beim XVII. Tschaikowski-Wettbewerb gewann, ist der armenische Cellist Narek Hakhnazaryan prinzipiell eine bekannte Größe in der Musikszene unserer Zeit, und die Liste der Musiker und Ensembles, mit denen er bereits gemeinsam musiziert hat, liest sich illuster. Insofern mag es erstaunen, dass seine Diskographie bislang eher schmal ist, und tatsächlich scheint das vorliegende Album (das allerdings bereits vor sieben Jahren aufgenommen wurde) seine erste Solo-CD im eigentlichen Sinne zu sein. Als einziges umfänglicheres Werk stehen Tschaikowskis Rokoko-Variationen im Zentrum eines Programms aus vorwiegend russischen und armenischen Stücken, darunter Klassiker wie Rachmaninows Vokalise. Am Pult der Wiener Symphoniker steht Hakhnazaryans um zehn Jahre älterer Bruder Tigran.
Das Cello als Sänger
Es ist die romantisch-kantable, elegisch umflorte Seite des Cellos, die weite Strecken des Albums dominiert. Nicht umsonst ist die Mehrzahl der Stücke in langsamen Tempi und einer Aura sehnsuchtsvoller Melancholie gehalten, die etwa Rachmaninows Vokalise op. 34 Nr. 14, Tschaikowskis Nocturne op. 19 Nr. 4 und Glasunows Chant du ménestrel op. 71 (1900) eint. Diese Ausdruckssphären kostet Hakhnazaryan genussvoll aus; er versteht es meisterhaft, sein Cello singen zu lassen, die weiten melodischen Bögen mit betörendem Schmelz und warmem, stets rundem Ton zur Entfaltung zu bringen. Innerhalb des Blocks der russischen Spätromantik, den die ersten fünf Stücke der CD bilden, liefern Tschaikowskis Variationen über ein Rokoko-Thema op. 33 (1876) und sein Pezzo capriccioso op. 62 (1887) zumindest passagenweise einen gewissen Kontrast. Tschaikowskis Rokoko-Variationen sind natürlich ein absolutes Repertoirestück, vielleicht von manchen Hörern ein wenig unterschätzt, wohl auch deshalb, weil man hier vor allem der klassizistischen Seite Tschaikowskis begegnet. Gerade der direkte Vergleich des Nocturnes op. 19 Nr. 4 und der sechsten Variation auf dieser CD zeigt dabei eindrücklich auf, wie stark auch die Variationen nichtsdestotrotz in Tschaikowskis ureigenem Tonfall verwurzelt sind, und ohnehin sollte ihre überwiegend lichte Natur und reduzierte Orchestrierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Werk cellistisch erhebliche Anforderungen stellt, stellenweise heikler als manches große Konzert. Diese meistert Hakhnazaryan mit großer technischer Souveränität, stets orientiert am musikalischen Ausdruck und der sorgsam gestalteten melodischen Linie.
Shor als Phänomen der letzten Dekade
Es folgen drei Stücke von Alexey Shor, Jg. 1970, geboren in der Ukraine, 1991 nach Israel ausgewandert und mittlerweile vorwiegend in den USA lebend. Als Komponist ist Shor ein Phänomen der letzten Dekade: promovierter Mathematiker und langjähriger Mitarbeiter eines Hedgefonds, ist er offenbar nicht vor 2012 öffentlich als Komponist hervorgetreten, ist seitdem aber diskographisch ausgesprochen präsent mit bemerkenswert prominenten Interpreten und Labels. Er schreibt eine melodisch dominierte, auf romantische Topoi Bezug nehmende, allerdings einfacher gehaltene und in vielerlei Hinsicht an Filmmusik gemahnende Musik. Die hier vertretenen Stücke sind von ihm selbst vorgenommene Arrangements; bei Lonely Sail etwa handelt es sich um eine Adaption des 2. Satzes seines Violinkonzerts Nr. 1 Seascapes (2014). Zwar stellen diese Stücke keine völligen Fremdkörper innerhalb der CD dar (bei Lament etwa handelt es sich um ein Volksliedarrangement), aber letztlich fällt diese eher klischeehafte Musik doch gegenüber dem Rest des Programms ab.
Armenische Klänge zum Abschluss
Man vergleiche etwa das Nocturne des Armeniers Eduard Baghdassarjan (1922–1987), ein Werk eigentlich für Violine und Klavier aus dem Jahre 1957, das die Melismen der armenischen Folklore mit Charakteristika einer barocken Aria kombiniert, wie es auch andere sowjetkaukasische Komponisten dieser Zeit gerne gemacht haben (u.a. der Georgier Otar Taktakischwili): diese sehr schöne Miniatur besitzt ein erkleckliches Mehr an Zwischentönen, Momenten der Uneindeutigkeit und des Unerwarteten als Shors eher schlichte Geradlinigkeit. Dieses Nocturne bildet gemeinsam mit dem temperamentvollen, eingängigen Impromptu (1941) von Alexander Arutjunjan (1920–2012), bekannt besonders durch sein Trompetenkonzert, den armenischen Abschluss des Programms. Leider wird im Beiheft nicht genannt, von dem die Orchestrierungen stammen; wenigstens im Falle der beiden Armenier ist dies nicht offensichtlich. Für meine Begriffe ist der Orchesterpart des Impromptus zu opulent geraten, erst recht, wenn bei der Wiederaufnahme des ersten Teils das Cello quasi die Begleitung übernimmt (und dies, obwohl im Rest des Programms eigentlich das sehr ordentlich begleitende Orchester klanglich eher etwas im Hintergrund steht). Nichtsdestotrotz erfreulich, solchen Werken in Neueinspielungen zu begegnen (zu begrüßen wäre es übrigens auch, wenn sich einmal jemand Arutjunjans mir nur als Lexikoneintrag bekanntem Concertino für Cello widmen würde). In der Summe ein schönes Album.
Holger Sambale [02.09.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Sergej Rachmaninow | ||
1 | Vocalise op. 34 Nr. 17 | 00:07:13 |
Peter Tschaikowsky | ||
2 | Nocturne cis-Moll op. 19 Nr. 4 | 00:05:19 |
3 | Pezzo capriccioso h-Moll op. 62 für Violoncello und Orchester | 00:07:32 |
Alexander Glasunow | ||
4 | Chant du Ménestrel op. 71 für Violoncello und Orchester | 00:04:46 |
Peter Tschaikowsky | ||
5 | Variationen A-Dur op. 33 für Violoncello und Orchester (Rokoko-Variationen) | 00:21:26 |
Alexey Shor | ||
6 | Lament | 00:04:01 |
7 | Melancholy | 00:03:54 |
8 | Lonely Sail | 00:04:41 |
Alexander Arutjunjan | ||
9 | Improptu | 00:04:24 |
Edvard Baghdarsaryan | ||
10 | Nocturne | 00:05:33 |
Interpreten der Einspielung
- Narek Hakhnazaryan (Violoncello)
- Wiener Symphoniker (Orchester)
- Tigran Hakhnazaryan (Dirigent)