Bayerische Staatsoper zum Tod von Otto Schenk
Seine "La Bohème" von 1969 bezaubert das Publikum immer wieder aufs Neue
„Ich möchte – wie Bernstein sagt: ich bin Musiker – sagen können: Ich bin Theater.“ Diesen Wunsch hat Otto Schenk 1976 in einer Gesprächssendung formuliert. Nun, fast ein halbes Jahrhundert später, ist der große Theatermann am frühen Morgen des 9. Januar in seinem 95. Lebensjahr gestorben, daheim in seinem Haus am Irrsee. Und wenn überhaupt ein Mensch in unseren Zeiten sagen kann, er sei mit jeder Faser seines Körpers, mit jeder Regung seiner Seele „Theater“, dann wohl er – denn „Otti“ Schenk, wie ihn seine Freunde und Weggefährten nannten, und irgendwann fast jeder, hat das Theater gelebt wie kein anderer.
Sprechtheater und Opernbühne
1930 in Wien geboren, studierte er am Max-Reinhardt-Seminar, wurde Schauspieler am dortigen Volkstheater und am Theater in der Josefstadt, lernte das Handwerk des Darstellens also von der Pike auf: Erfahrungen, die in allen seinen späteren, weltberühmten Regiearbeiten noch in der x-ten Wiederaufnahme zu spüren waren. Der Rundfunk rief und vertraute ihm eigene Sendungen, ja Sendereihen an (Das Spiel kann beginnen), das Schauspielseminar sah er bald wieder von innen, aber nun als Lehrer für junge Talente, und dann ging es los mit dem Inszenieren: O Wildnis von Eugene O’Neill markierte den Start im Sprechtheater, mit Don Pasquale gab er am Salzburger Landestheater sein Debüt als Opernregisseur. „Zur Regie kam ich durchs Dreinreden“, meinte er rückblickend selbst – weil er etwas zu sagen hatte, ob zu den ganz alten Werken oder brandaktuellen Stoffen.
Von Wien aus in die Welt
Von 1965 inszenierte er ständig an der Wiener Staatsoper, und von dort aus gastierte er in der ganzen Welt. Madrid oder Mailand, Hauptsache Theater: Hamburg, Berlin, London, New York, überall, wo es große Bühnen und starke Ensembles gab, war Otto Schenk zu Gast und beschenkte das Publikum mit Aufführungen, die das so schwere Leichte mit scheinbar höchster Leichtigkeit erreichten: „Man wirft mir manchmal vor, dass ich nur Natürlichkeit inszeniere. Aber Natürlichkeit wird unterschätzt. Ich halte das Leben für so grotesk, so unbeschreiblich exaltiert, dass man gar nicht fertig wird, das auf dem Theater unterzubringen.“ Die Bayerische Staatsoper schätzt sich glücklich, gleich sechs bedeutende Produktionen von Otto Schenk herausgebracht zu haben, darunter Simon Boccanegra (1971), Die Fledermaus (1974), La traviata und Don Carlos (beide 1975). Seine Inszenierung vom Rosenkavalier (1971) in der legendären Ausstattung von Jürgen Rose stand bis 2021 auf dem Spielplan, bis sie einen Nachfolger in der Interpretation von Barrie Kosky fand. Die Inszenierung von La bohème, die 1969 Premiere feierte, bezaubert immer noch regelmäßig im Nationaltheater ihr Publikum, fast Jahr für Jahr aufs Neue – als älteste unverändert gespielte Produktion im Repertoire der Bayerischen Staatsoper.
Leidenschaftlicher Schauspieler
Mit der Zeit wurden Otto Schenk auch Leitungsfunktionen angetragen, etwa als Direktoriumsmitglied der Salzburger Festspiele oder als Co-Direktor des Theaters in der Josefstadt. Noch mehr am Herzen lag es ihm, selbst auf der Bühne zu stehen, als Schauspieler in zahllosen Vorstellungen – als Teufel im Jedermann beispielsweise in gleich zwei verschiedenen Produktionen der Salzburger Festspiele oder, in seiner Liebe zum Volks- und Vorstadttheater, in einem Dutzend Nestroy-Rollen. Außerdem entwickelte er im Laufe der Jahrzehnte eine ganz eigene Kunst, die mit Kabarett verwandt ist, im Grunde aber Musik war. Da erzählte er „Sachen zum Lachen“, die in den Zuhörern Gedanken weckten, die lange wirkten. Das Theater blieb für ihn stets neu, und immer bewahrte er sich den Respekt vor dem Metier: „Als Kind hatte ich immer große Angst davor, ins Theater zu gehen. Daran hat sich eigentlich nichts geändert.“ 2021 stand Otto Schenk zum letzten Mal als Darsteller auf der Bühne. Im Jahr darauf ist seine Frau Renée, seine Gefährtin von fast sechzig Jahren, nach langer Krankheit vorausgegangen. Nun tritt er selbst von der Bühne des Lebens ab. Er hinterlässt seinen Sohn Konstantin und eine unüberschaubare Theaterfamilie auf der ganzen Welt, die mit seinen Aufführungen aufgewachsen und großgeworden ist. Wir fühlen uns mit seinen Angehörigen verbunden in der Trauer über den Abschied von diesem wunderbaren, humorvollen, weisen Künstler. Malte Krasting