ECM 476 7291
2 CD • 2h 11min • 2001, 2002
29.11.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Beim Hören dieser zwei CDs mußte ich an eine Szene aus Alfred Hitchcocks Der Fremde im Zug denken: Der besessene Bruno Anthony hat gerade das Feuerzeug seines Gegenspielers Guy Haines verloren, das er doch so unbedingt braucht, um ihm den Mord an der Ehefrau anhängen zu können; da hockt er nun verzweifelt am Bordstein und quetscht seinen Arm wie wahnsinnig durch den Gullydeckel, um das lebensnotwendige Stück zu erhaschen ...
Die Assoziation hatte nun nichts damit zu tun, daß ich dem Interpreten der vorliegenden Neueinspielung irgendeinen Tort hätte zufügen wollen. Die Sequenz symbolisierte mir nur mein bisheriges Verhältnis zu den sechs Sonaten und Partiten von Johann Sebastian Bach: Ich sah sie vor mir, immer zum Greifen nahe, bemühte mich immer wieder, einiges von ihrem spürbaren Wert zu erfassen, schob mich ein ums andere Mal gegen alle Widerstände (manche Geige klingt allein wirklich nicht schön!) vorwärts – und fischte doch immer wieder ins Leere.
Das hat jetzt ein Ende. Als hätte mir jemand den Schlüssel zu der Schatzkammer in die Hand gedrückt, von deren Existenz ich ja überzeugt war, in die ich aber noch nie hineingelangt hatte – so erlebe ich auf einmal die Sei, wie Gidon Kremer liebevoll in seinen Ansichten über die Werke schreibt, ohne daß ich mir den Zwiespalt zwischen persönlicher Ahnung und gegeigter Realität fadenscheinig hinwegzuerklären versuche: Keine Diskussion mehr über die richtige Art, das Instrument zu besaiten, über Gebote und Verbote der Aufführungspraxis, über Tempi, deutschen und italienischen Bogen, unerreichbare Ideale – sondern nur noch ein unendliches Staunen über die Fülle farblicher Schattierungen, die mutige Rhetorik und die Rigorosität, mit der hier einer Sache auf den Grund gegangen wird, von der ich nicht mehr genug bekommen kann.
Am besten beschreibe ich die Produktion wohl mit dem Wort haunting – einer jener schier unübersetzbaren Köstlichkeiten der englischen Sprache, die fast alles meinen kann: einen spukenden Geist, einen Ohrwurm oder eines jener unvergeßlichen Erlebnisse, die einen nicht mehr loslassen. So ging’s und geht’s mir mit dieser Einspielung der Sei Solo. Ich höre sie einmal, zweimal, dreimal, bevor ich mich aufraffe, die Eindrücke in bescheidene Worte zu fassen; ich höre sie, während ich dieses schreibe und werde sie auch zukünftig hören, wenn uns der alltägliche Schwachsinn wieder einmal als „Wirklichkeit” verkauft werden soll. Nicht, um solo zu sein, nicht als eskapistische Maßnahme, sondern im Wissen, daß schon einer der langsamen Sonatensätze, eine der herausgekeilten Bourréen oder eine dieser geradezu unglaublich durchgeformten, -gehörten, -gefärbten Fugen genügt, um wieder zu Verstande zu kommen.
Wo immer man hier einsteigt, gelangt man (ich weiß wohl, wie abgedroschen das ist!) zu einer künstlerischen Offenbarung: Das ächzend-kantige Adagio der dritten Sonate, die stets am Rande zur Auflösung tanzende Siciliana aus der ersten, die Giga der zweiten Partita – es gibt tatsächlich keinen Satz, der nicht etwas ganz Besonderes wäre. Und noch habe ich nichts über die Ciaccona gesagt, um deren Bedeutung „alle Welt” weiß. Werde ich auch nicht! Die soll jeder für sich selbst entdecken. Sie steht nach wie vor am Schluß der d-Moll-Partita, doch ich glaube, der Weg dahin und bis zum Ende des Zyklus wird fortan nie mehr derselbe sein.
Rasmus van Rijn [29.11.2005]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Sonaten und Partiten BWV 1001-1006 für Violine solo |
Interpreten der Einspielung
- Gidon Kremer (Violine)