Wilhelm Middelschulte Organ Works Vol. 3
cpo 777 144-2
1 CD • 65min • 2003
08.06.2006
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Es ist immer wieder erstaunlich, welch’ kapitale Entdeckungen im vermeintlich so gut erkundeten klassischen Repertoire immer noch gemacht werden können. Wilhelm Middelschulte (1863–1943) dürfte jedem bisher noch nicht Eingeweihten wie eine etwas obskure Figur der Musikgeschichte vorkommen; in der älteren Ausgabe des Grove Dictionary zumindest findet sich kein Eintrag zu ihm, und auch die Schallplattenkataloge wußten bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Organist Jürgen Sonnentheil mit seiner Middelschulte-Initiative die Bildfläche betrat, nichts oder kaum etwas von Middelschulte zu berichten. Er sei hier deshalb kurz vorgestellt. Middelschulte, als Kirchenmusiker in Berlin ausgebildet, wanderte 1891 nach Amerika aus, um dort mit seiner Frau zu leben. Er fasste Fuß in Chicago, wo er als Kirchenmusiker wirkte, lehrte, und schließlich auch ausgiebig als Konzertorganist des Chicago Symphony Orchestras unter solchen Koryphäen wie Theodore Thomas oder Frederick Stock konzertierte. Nicht zuletzt verfolgte er aber auch eine bedeutende kompositorische Karriere.
Die Wiederentdeckung Middelschultes geht maßgeblich auf Jürgen Sonnentheil, Organist, Dirigent, und Kirchenmusiker in Cuxhaven, zurück. Mittlerweile legt er die dritte Folge einer projektierten Gesamteinspielung des Orgelwerkes bei cpo vor; zudem bereitet er mit Hans-Dieter Meyer, der auch das hochinformative Beiheft zur vorliegenden Produktion verfaßte, eine Neuedition des Orgelwerkes vor.
Angesichts der Flut von musikalischen Ausgrabungen aus allen Epochen, die auch Viert- und Fünftklassiges zu Tage fördern, empfiehlt sich zwar generell immer eine gewisse Vorsicht. Doch mit Middelschulte ist tatsächlich einmal eine veritable Wiederentdeckung gelungen, weil dieser im Kontext der Strömungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts tatsächlich einen eigenen Weg gefunden hat. Die drei hier vorgestellten Orgelwerke beziehen ihr motivisches Material aus bekannten Werken Johann Sebastian Bachs, die jedoch von Middelschulte mit einer sehr eigenen und in vielen kompositionstechnischen Belangen auch prophetischen Technik verarbeitet und durchgeführt werden. Interessant ist hierbei zunächst die frappierende Harmonik Middelschultes, die um die expressive Chromatik des 19. Jahrhunderts einen eben so weiten Bogen macht wie um die Tonalitäts-Experimente des 20. Jahrhunderts, aber dennoch – trotz des von Bach entlehnten thematischen Materials – auch von jeder neobarocken Rhetorik gleichweit distanziert ist. In ihrer seltsamen Ausgeglichenheit, Statik und dem gleichzeitigen Farbreichtum kann Middelschultes Harmonik vielleicht wirklich am besten gotisch genannt werden, wie es von Zeitgenossen getan wurde. Dem entspricht auch die geradezu alchimistisch gelehrte kontrapunktische Kunst, die sich in vertrackten kanonischen Bildungen äußert, deren Kompliziertheit jedoch beim Hören nie störend auffällt. Schließlich würde diese Metapher vom Gotiker Middelschulte, die von keinem Geringern als Busoni auf den Komponisten Middelschulte geprägt wurde, auch seine formale Gestaltung ganz gut beschreiben helfen: Middelschulte bewältigt riesige Zeitabschnitte, ohne erkennbar äußere Modelle zu verwenden, aber auch ohne jedes Längengefühl hervorzurufen.
Ein Faszinosum ganz eigener Sorte ist die Version von Bachs Toccata und Fuge d-moll BWV 565, zu der Middelschulte einen Klavierpart(!) hinzufügte, der die quasi-improvisatorischen Passagen der Toccata harmonisch sowie vor allem rhythmisch-metrisch förmlich interpretiert und kommentiert und wie eine vollkommen unübliche Übermalung eine kaum vorstellbare Verfremdung des Stückes herbeiführt.
Sonnentheils Interpretation ist bisher ja praktisch noch ohne Konkurrenz, aber die Spielweisen würde auch ohne diesen Raritäten-Bonus Maßstäbe setzen. Abgesehen von der mühelosen Bewältigung der technischen und vor allem geistigen Schwierigkeiten von Middelschultes Kontrapunktik sind die Registrierungen einfallsreich und sehr durchsichtig, aber stets so zurückhaltend, daß sie Middelschultes magisches, hypnotisches, dabei differenziertes Immergleich nicht stören. Sonnentheil kann sich rühmen, Middelschultes Musik überhaupt erst wiedererweckt zu haben, und sein Name wird in der Rezeptionsgeschichte, soviel ist schon jetzt klar, einen wichtigen Platz einnehmen.
Prof. Michael B. Weiß [08.06.2006]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Wilhelm Middelschulte | ||
1 | Kanonische Fantasie über BACH und Fuge über vier Themen von J.S. Bach | |
2 | Konzert über ein Thema von J.S. Bach | |
Johann Sebastian Bach | ||
3 | Toccata d-Moll BWV 565 (Bearb. für Orgel und Klavier) |
Interpreten der Einspielung
- Jürgen Sonnentheil (Orgel)
- Philip Mayers (Klavier)