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Besprechung CD

Dimitri Shostakovich

The Complete String Quartets

Fuga Libera FUG512

5 CD • 6h 26min • 2001, 2004, 2005

07.07.2006

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Wer an das Mitleid als die höchste menschliche Tugend glaubt, sollte die vorliegende Box weiträumig umfahren. Wem aber daran gelegen ist, einen musikalischen Qualitätssprung aus den schwülen Regionen der „persönlichen Betroffenheit” hinauf in die Ebene echter Größe mitzuerleben, dem sei dringend geraten, sich mit diesen zwischen 2001 und 2005 entstandenen Einspielungen des Danel-Quartetts auseinanderzusetzen. Diese nämlich, so will mir scheinen, lassen einen Aspekt der modernen Schostakowitsch-Rezeption außer acht, der – von gewissen Kreisen während der letzten Jahre allzu sehr in die Breite getreten und ausgekostet – in letzter Instanz doch weitgehend entbehrlich ist: und zwar just jenes Element des Mitleids und Mitleidens, mit dem man dem großen Russen und seiner gewiß einzigartigen Musik glaubte auf die Spur kommen zu können. Wenn’s nur erst einmal gelingen könnte, alle finstersten, schmerzlichsten Winkel in den Partituren der Sinfonien, Quartette, Kammermusiken und Solopiecen aufzuspüren, dann endlich hätte man begriffen, was dieses repräsentative Opfer eines totalitären Systems wirklich umgetrieben hat, und wenn man schließlich alle motivischen Bezüge, sämtliche autobiographischen, politischen und kulturellen Querverstrebungen zergliedert hätte – dann, ja dann endlich werden wir wie die Kinder vor den Spielsachen stehen, deren Funktion wir zwar immer noch nicht kapiert habe, die dafür jetzt aber kaputt sind...

Ob sich die Musiker des Danel-Quartetts, bevor sie ins Studio gingen, haarklein darüber Rechenschaft abgelegt haben, wie sie der weit offenen Falle entgehen und einen wahrhaft zukunftsträchtigen Schostakowitsch abliefern können, oder ob sie sich nicht vielmehr von ausgeprägten Instinkten haben auf die richtige Seite leiten lassen, darüber kann ein Außenstehender natürlich nur spekulieren – vorausgesetzt, er hat nichts Besseres zu tun. Wozu zweifellos das Anhören der fünf mit (bis zu 80 Minuten) Musik geradezu vollgestopften CDs zu rechnen ist, die die fünfzehn Quartette gottlob nicht chronologisch, sondern in intelligenten, einleuchtenden Programmen offerieren und, es sei noch einmal gesagt, sie unter Preisgabe der „niedersten Instinkte” darzubieten haben. Das Wunderbare ist nun aber, daß gerade durch diesen Verzicht aufs tränenreiche Ecce homo!-Gewinsel eine Serie leidenschaftlicher und derart spannungsvoller Interpretationen entstanden ist, die vom ersten bis zum letzten Augenblick sehr viel mehr anrührt und fesselt als das, was uns gemeinhin als Schostakowitsch verkauft wird. Nehmen wir beispielsweise das achte Quartett, dieses berühmte, den „Opfern des Faschismus” gewidmete Stück voller Selbstzitate, in dem pfiffige Ohren sogar die Luftangriffe auf Dresden hören wollen: Das Danel-Quartett demonstriert uns, daß nicht eine einzige Hintergrundinformation unbedingt nötig ist, um dieses Werk in seiner tatsächlichen Bedeutung mitzuerleben („Großes ist nie privat”, pflegte Günter Wand zu sagen). Die Kenntnis der Anspielungen ist nützlich, sie erweitert die Perspektive um historisch-autobiographische und gewiß auch politische Details. Doch ebensowenig wie der Heilige Dankgesang nur und ausschließlich unsere sympathischen Saiten anrührt, wenn wir von Beethovens Problemen mit der Leber wissen, so ist hier der persönliche Blickwinkel des Komponisten der einzig ausschlaggebende. Und selbst der nun wirklich beklemmende Abschied des fünfzehnten Quartetts, selbst dieses halbstündige Dauer-Adagio läßt sich als „Werk an sich” hören, ohne daß wir vorher einen Kurzlehrgang in Koronarinsuffizienz oder ähnlichem absolvieren müßten.

Was in diesen Einspielungen gelingt, ist also nicht gerade wenig. Sie vermögen gewissermaßen, durch die „Volkovschen” Wolkenschichten emporzusteigen, die einem seit den späten siebziger Jahren das ursprünglich-naive Vergnügen an Schostakowitsch nahmen und durch ein extrem differenziertes, ganz und gar nicht lustiges Weltbild ersetzten, das dann seit dem Zusammenbruch der UdSSR nur noch schwärzer ausgemalt wurde – bis man „vor lauter Mitleid” schon gar nicht mehr zuhören mochte. Mit andern Worten waren wir zunächst den Propagandisten à la Iwan Martynow oder Heinz Alfred Brockhaus aufgesessen, danach mit den tatsächlichen Wunderdingen des real existierenden Sozialismus konfrontiert worden, nur um nach einer weiteren Drehung des Rezeptionsrades eine ähnlich freie Aussicht zu haben wie weiland der Doctor Marianus: Ohne jede abgehobene Jenseitigkeit ist die vorliegende Gesamtaufnahme der fünfzehn Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch ein Lehrstück in der Kunst, allzu privaten Ballast abzuwerfen und auf diese Weise Kunstwerke freizulegen, die weit mehr und nachhaltiger zu faszinieren vermögen als durch den „alltäglichen Wahnsinn”, der da hineinkomponiert sein mag.

Die Einführungstexte (niederländisch, englisch, französisch) tragen diesem künstlerischen Ansatz in ihrer Objektivität durchaus Rechnung, der Gestaltung des Booklets hingegen hätte eine glücklichere Hand und ein schärferes Auge wohlgetan – besonders über das Tracklisting und die Anordnung der „Credits” auf einer rechten Seite wäre noch einmal nachzudenken gewesen. Das zur Erklärung der dritten Bewertungsziffer für eine Produktion, die ansonsten im höchsten Maße verdienstvoll ist.

Rasmus van Rijn [07.07.2006]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Dimitri Schostakowitsch
1Streichquartett Nr. 2 A-Dur op. 68 (1944)
2Streichquartett Nr. 7 fis-Moll op. 108
3Streichquartett Nr. 5 b-Moll op. 92 (1952)
4Streichquartett Nr. 6 G-Dur op. 101
5Streichquartett Nr. 3 F-Dur op. 73
6Streichquartett Nr. 13 b-Moll op. 138 (1970)
7Streichquartett Nr. 14 Fis-Dur op. 142 (1973)
8Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110
9Streichquartett Nr. 12 Des-Dur op. 133 (1968)
10Streichquartett Nr. 4 D-Dur op. 83 (1949)
11Streichquartett Nr. 11 f-Moll op. 122 (1966)
12Streichquartett Nr. 9 Es-Dur op. 117
13Streichquartett Nr. 1 C-Dur op. 49
14Streichquartett Nr. 10 As-Dur op. 118
15Streichquartett Nr. 15 es-Moll op. 144

Interpreten der Einspielung

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