Josef Holbrooke Symphonic Poems
cpo 777 442-2
1 CD • 56min • 2008
31.07.2009
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Zur Unterscheidung von seinem Vater schrieb sich Josef Holbrooke aus Croydon bei London mit einem „f“ anstelle des üblichen „ph“ – und das nicht, weil er geahnt hätte, daß man im vielbewunderten Deutschland rund 120 Jahre nach seiner Geburt (1878) den adligen Pfalzgrafen und dem nützlichen Deichgrafen auch noch die schwachsinnigen Ortografen zur Seite stellen würde. Der Grund war vielmehr, daß sich Vater und Sohn Holbrooke als professionelle Musiker betätigten: jener vornehmlich als reisender Klavierbegleiter, dieser aber, nachdem er sich mit viel Fleiß und Können durch die Royal Academy of Music gearbeitet hatte, schon bald mit gewagten, teils überaus experimentellen Kompositionen, von denen einiges zur damaligen Zeit eine recht erhebliche Bekanntheit erreichte.
Dafür, was Josef Holbrooke konnte und produzierte, ist die heutige Katalogsituation sehr bedenklich. Man kann lesen, daß seine Musik „nach dem Ersten Weltkrieg“ viel von ihrer Popularität verloren hätte (immerhin sei aber vermerkt, daß seine Oper The Children of Don es noch Mitte der zwanziger Jahre bis zur Wiener Volksoper schaffte – und nicht durchfiel). Jedoch wird auch im Falle Holbrooke, der gegenüber den berühmteren Zeitgenossen Ralph Vaughan William und Arnold Bax deutlich ins Hintertreffen geriet, wieder einmal der Verdacht genährt, als sei der „Great War“, der Krieg, mit dem bekanntlich alle Kriege enden sollten, nicht nur zum Sturz alter Herrschaftssysteme dagewesen, sondern habe die kultivierte (nicht: zivilisierte) Welt auch mit einer veritablen „Verstimmung“ dergestalt aus dem Tritt bringen wollen, daß Schönes und Empfundenes plötzlich verschmäht, Häßliches dafür aber und rein Kalkuliertes propagiert werden konnten.
Das ist natürlich reine Spekulation, zu der allerdings paßt, was Cyril Scott bei seiner Laudatio zum achtzigsten Geburtstage (und ein Jahr vor dem Tode) des Kollegen ausführte: „Schönheit als solche bleibt immer bestehen, und man kehrt immer wieder zu ihr zurück.“ Sagen wir’s doch offen heraus: Das ist wahr. Wie viele derer, die vor zwanzig Jahren noch benasrümpft wurden – selbst Ferruccio Busoni und besonders Gestalten wie Franz Schreker –, haben sich zurückgemeldet, weil wir, wenn wir ehrlich sind, den „Kanal voll haben“ von jener fortschreitenden Demontage, die ja selbst vor den bedeutendsten Schöpfungen nicht halt machen soll (eine Zauberflöte in der Pathologie, ob mit oder ohne „th“, ist für mich einfach nicht wünschenswert, und an einen Tristan in Unterhosen kann ich mich auch nicht leicht gewöhnen).
Doch zurück zu Josef Holbrooke, dem cpo jetzt mit einer rundum exzellenten Produktion aus Frankfurt an der Oder und einem dem künstlerischen Niveau entsprechenden Einführungstexte neuen Wind in die etwas schlaffen Segel geblasen hat – einen Wind, der mich als erstes bewog, nach der Anhörung der neuen Aufnahme auch die alte Marco Polo-Scheibe mit fünf Orchesterwerken (MP 8.223446), die sich seit ewigen Jahren in meiner Sammlung zwischen Hoffmeister und Holmboe gelangweilt hatte, wieder einmal vorzunehmen, die ebenfalls schon betagte zweite Veröffentlichung des Labels (MP 8.223721) heranzuziehen und mir überdies das erste Klavierkonzert zu „organisieren“ (mein ausdrücklicher Dank geht an den Münchner Vertrieb von Codaex), das Ende der neunziger Jahre bei Hyperion im Rahmen der „Romantic Piano Concerto“-Serie erschienen ist.
Bewaffnet also mit einer zwar keineswegs erschöpfenden, ja vielleicht nicht einmal wirklich repräsentativen, in jedem Falle aber verhältnismäßig umfangreichen Auswahl musikalischer Wunderwerke, komme ich tatsächlich schnell zu der Überzeugung, daß wir es hier nicht nur mit einem Nischenbewohner, sondern mit einer Begabung zu tun haben, deren charakteristische und individuelle Sprache vernehmlich auf die Zeit vor der „großen Verstimmung“ zurückweist und für die deshalb die im cpo-Booklet zitierten Worte Scotts gelten: „Wenn es schließlich wieder Komponisten gibt, die mit ihrer Inspiration das Konkordante und das Schöne in eine neue Form bringen, wird die Musik einmal mehr in eine neue Phase eintreten. Dann könnte es geschehen, daß einige, die angeblich hinter ihrer Zeit zurückgeblieben waren, ihr in Wirklichkeit voraus sind, weil sie in größerem Einklang mit der Zukunft stehen als mit der gegenwärtigen, extremistischen Phase.“
Dabei sollte niemand, der Holbrooke noch nicht gehört hat, mit musikalischen Bonbons oder andern Süßlichkeiten rechnen. Vielfach ist der Komponist mit seinem Hang zu Edgar Allan Poe und finsteren Sagen (insbesondere zu denen der alten Kelten) alles andere als heiter: Die Tondichtung Nr. 2 The Viking erzählt von einem unglücklichen Nordmann, der zunächst der Schrecken der See ist, dann von einer schönen Maid „gezähmt“ wird, mit dieser vor der „Schwiegerfamilie“ übers Meer flieht und bis zum Tode der Geliebten ein glückliches Leben führt. Danach stürzt er sich ins Schwert, um mit ihr auch weiterhin vereint zu sein. Ausgehend von Longfellows Das Skelett in der Rüstung ließ Holbrooke in dieser Komposition seiner Wagner-Begeisterung freien Lauf und hat beispielsweise kein Problem, für die Fahrt übers Meer das Schiff des Fliegenden Holländers zu benutzen – wie er es überhaupt kunstvoll versteht, Zitate und thematische Schattenrisse in seine Kompositionen einzuarbeiten, die damit auf raffinierte Weise über sich selbst hinausweisen (Schumann konnte das und Mahler trieb es bis zur Perfektion). Das kann mal mit gutem Humor geschehen wie bei den hinreißenden Variationen über das Kinderlied von den drei blinden Mäusen, in denen am Schluß der „Jolly good fellow“ gefeiert und der Marsch der „British Grenadiers“ gezündet wird. Es geht aber auch eher plakativ wie in dem eben angesprochenen Wikinger – oder ganz subtil und hintersinnig wie in der recht spät entstandenen, dramatischen Ouvertüre Amontillado op. 123 (1937), die auf E. A. Poes rachsüchtiger Erzählung Das Faß Amontillado basiert, in der sich ein gewisser Montresor an seinem Widersacher Fortunato dergestalt rächt, daß er ihn unter falschen Voraussetzungen in seinen Weinkeller lockt und nach gehöriger Bewirtung einmauert. In diesem wiederum ausgesprochen faszinierenden Stück Orchestermusik treibt sich nunmehr ein musikalischer Gegenstand herum, den ich mir zwar nicht erklären, den ich aber auch nicht überhören kann und dem ich gelegentlich unter Zuhilfenahme der Partitur werde nachgehen müssen: Hat Holbrooke oder hat Holbrooke nicht dasselbe Husarenlied in seiner Partitur eingemauert, über das der kaum ältere Franz Schmidt ein paar Jahre früher seine berühmten Orchestervariationen geschrieben hatte?
Das Interesse am Sujet jedenfalls ist ein für allemal erwacht, nicht zuletzt auch, weil die immer farbenreiche, nuancierte, vielfach in dunklen Schatten gehaltene Musik von Josef Holbrooke in der vorliegenden Neuaufnahme mit einer suggestiven Überzeugtheit ausgeführt wird, daß ich nur auf eine baldige Fortsetzung der Reihe hoffen kann.
Rasmus van Rijn [31.07.2009]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Josef Holbrooke | ||
1 | Amontillado op. 123 (Dramatische Ouvertüre) | 00:09:26 |
2 | The Viking op. 32 (Tondichtung Nr. 2) | 00:19:02 |
3 | Three Blind Mice op. 37 Nr. 1 (Symphonische Variationen über eine alte englische Weise) | 00:14:37 |
4 | Ulalume op. 35 (Tondichtung Nr. 3) | 00:12:56 |
Interpreten der Einspielung
- Brandenburgisches Staatsorchester Frankfurt (Orchester)
- Howard Griffiths (Dirigent)