Henryk Szeryng plays
Nardini • Vieuxtemps • Ravel • Schumann
SWRmusic 94.229
1 CD • 76min • 1955, 1957
29.05.2015
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Aus den Archiven des Südwestrundfunks hat Hänssler Classic bereits viele Aufnahmen herausragender Musiker der Vergessenheit entrissen und in der „Archiv Reihe“ veröffentlicht, so zum Beispiel von Ida Haendel, Johanna Martzy, Gezá Anda oder dem vorletztes Jahr verstorbenen János Starker. Eine weitere Ausgrabung für diese historische Serie widmet sich dem polnisch-mexikanischen Geiger Henryk Szeryng, der zu Lebzeiten als einer der größten Virtuosen überhaupt galt, doch heute unbekannter ist als einige seiner damals vergleichbar populären Kollegen wie David Oistrach, Yehudi Menuhin oder Isaac Stern, um nur drei repräsentative Namen zu nennen.
In den zwischen 1955 und 1957 entstandenen Aufnahmen spielt der erst im Jahre 1954 durch die Begegnung und folgenden Aufnahmen mit Artur Rubinstein international bekannt gewordene jüdische Violinist mit dem damaligen SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden unter dem großen Hans Rosbaud das zu jener Zeit viel gespielte Violinkonzert e-Moll von Pietro Nardini, das vierte Konzert von Henri Vieuxtemps und das erst 1937 uraufgeführte späte Konzert von Robert Schumann sowie die Konzertrhapsodie Tzigane von Maurice Ravel.
Szeryngs Technik und Tonschönheit in den beiden Live-Aufnahmen von 1955 (Nardini und Vieuxtemps) wie auch in den vermutlich – wie bei ihm üblich – mit ganz wenigen Schnitten erstellten Studioaufnahmen, ist absolut makellos. Mit müheloser Beweglichkeit und nie versiegender Spielfreude meistert er nicht nur die virtuosesten Passagen der Konzerte mit vollendetem Glanz und lebenssprühendem Ausdruck. Auch die kleinen agogischen Freiheiten, die er sich nimmt, sind ausnahmslos funktionell aus dem Zusammenhang begriffen und maßvoll, ohne je ins Manieristische oder Mechanistische abzugleiten. Ein besonderes Charakteristikum von Szeryngs Spiel ist der volle und äußerst dichte, sämige Klang, der zugleich immer transparent und biegsam bleibt. Henryk Szeryngs Gestaltung lebt vor allem vom Moment, er legt höchsten Wert auf detailgetreue Gestaltung auch unscheinbarster, scheinbar nebensächlicher Figuren. Sein gefühlvoller Ausdruck paart sich mit unbestreitbarer Eleganz, was den Hörer sofort in den Bann zu reißen vermag. Das Orchester unter Hans Rosbaud ist ihm dabei ein fähiger und reaktionsschneller Mitstreiter und begleitet mit angemessener Eigenständigkeit, bei Schumanns sinfonisch komplexer Faktur ohnehin, aber auch bei Vieuxtemps, ohne gesichtslose Zurückhaltung zu üben, wodurch einige starke dynamische Momente entstehen können, sich durchgängige Kontinuität einstellt und eben keinesfalls Langeweile aufkommt, wenn der Solist gerade schweigt. Ungewohnt ist für den heutigen Hörer lediglich das Fehlen der Orchesterexposition in den Konzerten von Vieuxtemps, was allerdings in dem sehr prägnanten und informativen Begleittext hinreichend damit erklärt wird, dass es damals durchaus noch üblich war, die Orchesterexposition in dem in der Sonatenform gebauten Ecksätzen massiv zu kürzen, damit die begierigen Hörer nicht so lange auf den Einstieg des Solisten warten müssen.
Die Klangtechnik ist angesichts des Alters der Aufnahmen konstant ausgesprochen gut, weder Solist noch Orchester klingen dumpf oder gar dynamisch flach; Störgeräusche sind nicht in bemerkenswerter oder gar den Genuss beeinträchtigender Weise vorhanden.
Eine besondere Rarität für den heutigen Hörer ist das Violinkonzert in e-Moll von Pietro Nardini, das heute kaum noch gespielt wird. Szeryng spielt eine Variante für reines Streichorchester ohne einleitende Orchesterexposition der bekannten romantischen Bearbeitung von Hans Sitt (erschienen bei Leuckart), die dem berühmten Geigenvirtuosen Gustav Havemann zugeeignet wurde (dem einige Uraufführungen und Widmungen grandioser Werke wie der 1917 geschriebenen ersten Violinsonate in c-Moll von Paul Büttner oder des hochvirtuosen 1. Violinkonzerts von Pancho Vladigeroff zufielen). Entsprechend romantisch wirkt auch das sehr fein verwobene und nuancenreiche Spiel Szeryngs, neben dem z. B die Aufnahmen von Manfred Scherzer, Eduard Melkus oder Karl Buchmann einigermaßen farblos wirken. Geradezu überwältigend gelang das am gleichen Tag aufgenommene vierte Konzert von Henri Vieuxtemps, das trotz rasender Tempi zu keiner Zeit an Durchsichtigkeit verliert. Vergleicht man etwa mit der neu erschienenen Einspielung von Hilary Hahn unter Paavo Järvi, so sticht insbesondere beim Scherzo sofort der Tempounterschied ins Auge: Hilary Hahn spielt viel gemessener und verhaltener. Beide Aufnahmen sind exzellent, doch trifft die vorwärtstreibende Kraft Szeryngs den Kern des virtuosen Charakters entschieden mehr. Auch die explosiv dargebotene Tzigane von Ravel und das aufgrund seiner Undankbarkeit für den Solisten lange Zeit unterrepräsentierte Violinkonzert von Robert Schumann, im Studio aufgenommen, gelingen nicht weniger zündend und natürlich in unbestechlicher Makellosigkeit. Gerade das zu jener Zeit fast überhaupt nicht gespielte Schumann-Konzert lag Szeryng sehr am Herzen; hier sind agogische Freiheiten nur in sehr subtiler Form vorhanden. In edler und angemessener Zurückhaltung spinnt der Violinist im Wechselspiel mit Rosbauds Mannschaft ein feines Netz der ausdifferenzierten strukturellen Bezüge dieses substanziellen Meisterwerks und lässt die Genialität dieses lange verfemten Konzerts mit schlagender Deutlichkeit zutage treten. Hoffentlich ist diese sehr abwechslungsreiche und durchgehend exzellente CD der Beginn eines weiteren Erkundungszugs durch Szeryngs Zusammenarbeit mit dem einstigen Südwestfunk.
Oliver Fraenzke [29.05.2015]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Pietro Nardini | ||
1 | Violinkonzert e-Moll | 00:11:06 |
Henri Vieuxtemps | ||
4 | Violin Concerto Nr. 4 d minor op. 31 | 00:25:11 |
Maurice Ravel | ||
7 | Tzigane (Rapsodie de Concert) | 00:09:38 |
Robert Schumann | ||
8 | Violin Concerto d minor | 00:29:16 |
Interpreten der Einspielung
- Henryk Szeryng (Violine)
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)
- Hans Rosbaud (Dirigent)