Franz Tunder
In Perspectief 3
Peter Westerbrink
SIOG 201701
1 CD • 76min • 2016
31.01.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Wer im 17. Jahrhundert ein Unterscheidungsmerkmal suchte, baute als Fürst einen prunkvollen Palast. Innerhalb enger Stadtmauern war dies schwierig. Deshalb suchten die reichen Hanse-Kaufleute sich in der Stiftung der kompliziertesten mechanischen Maschinen, die damals denkbar waren, nämlich prunkvoller Orgeln, zu übertreffen.
England trifft auf Italien
Der norddeutsche Orgelstil wurde von zwei Elementen maßgeblich beeinflusst: Einerseits speist er sich besonders in choralbasierten Werken aus den spieltechnische Elementen und der Variationstechnik der Englischen Virginalisten, von denen John Bull, Peter Philips und Orlando Gibbons in im engeren Kontakt zu Jan Pieterszoon Sweelinck, dem Organisten der Oude Kerk, in Amsterdam standen. Sweelinck – der norddeutsche „Organistenmacher“ – war wiederum der Lehrer der Hamburger Hauptkirchenorganisten Jacob Praetorius (St. Petri) und Heinrich Scheidemann (St. Katharinen). Andererseits wird Franz Tunder, der Organist der Lübecker Marienkirche, Vorgänger und Schwiegervater von Dieterich Buxtehude von Johann Mattheson als Schüler Girolamo Frescobaldis, des berühmten Organisten des Petersdoms in Rom bezeichnet. Möglicherweise war es aber Tunders Lehrer Johann Heckelauer, der seine Organistenausbildung in Italien vervollkommnete. Auf diesem Wege kamen Toccata und Canzona in das norddeutsche Repertoire. Der Dresdner Hoforganist und spätere Stelleninhaber an der Hamburger Jacobi-Kirche, Matthias Weckmann, hatte bei Praetorius gelernt und als er später eine Lübeckerin heiratete, war Tunder einer seiner Trauzeugen.
Wohldurchdachtes Konzept
95 Prozent der hanseatischen Orgelmusik muss übrigens als verloren gelten, da abgesehen von Samuel Scheidts Tabulatura nova im 17. und 18. Jahrhundert Musterkompositionen zumeist nur handschriftlich von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurden. Diese Muster dienten dann als Modelle für die fast ausschließlich improvisierten Darbietungen und mussten dem Meister – wenn sie nicht im Lehrgeld bereits inbegriffen waren – auf Basis abgeschriebener Seiten extra bezahlt werden.
Die dritte CD dieser vierteiligen Reihe liefert nur zwei Werke Tunders in Form der – wohl für die von ihm begründeten Lübecker Abendmusiken als Solowerke gedachten – großen Choralfantasien über Herr Gott, Dich loben wir und Komm, Heiliger Geist. Dafür ist sein Zeitgenosse Matthias Weckmann mit acht Werken in vorwiegend italienischem Stil vertreten, was jedoch im wohldurchdachten Konzept, Tunders schmales Orgelwerk in den Kontext der Zeitgenossen zu stellen und somit eine Gesamtschau auf die hanseatische Orgelkultur zu liefern, absolut seine Berechtigung hat.
Meisterhaftes Orgelspiel
Hinsichtlich Spiel- und Registrierkunst kann ich mich dem hohen Lob, das die Kollegen Krawinkel und Huchting Peter Westerbrink bereits zollten, nur aus vollem Herzen anschließen. Wie nur ganz Wenige hat er den Stil des 17. Jahrhunderts verinnerlicht und lässt ihn für uns lebendig werden. Er weiß, wo er Verzierungen hinzufügen sollte, wo er Freiheiten im Tempo innerhalb von Toccatenfiguren anzubringen hat – die immer organisch wirken, was eine phänomenale Kontrolle voraussetzt – und findet die passenden Farben für die jeweilige Komposition. Da er die mit II/28 mittelgroße Schnitger-Orgel in Uithuizen (nähe Groningen) regelmäßig spielt, findet er delikate Soloregistrierungen, kann aber auch im Plenum sinnfällig differenzieren.
Die Aufnahmetechnik bildet die Orgel relativ direkt, farbig und geschlossen ab, was den Feinheiten von Westerbrinks Spiels nur zugutekommt. Das Booklet ist mit liebevollem Aufwand gestaltet. Disposition und Registrierungen werden mitgeteilt. Luxus ist es, wenn man einen der besten Kenner der Materie, Ibo Ortgies, als Übersetzer des niederländischen Texts gewinnen kann.
Fazit: Die beste Anthologie mit hanseatischer Orgelmusik des 17. Jahrhunderts, die man sich denken kann. Wundervoll „sprechendes“ Orgelspiel an einem sehr reizvollen, farblich authentischen Instrument. Unbedingte Empfehlung an alle, die sich mit einer stilvollen Wiedergabe frühbarocker Musik vertraut machen wollen. Für mich eine der wichtigsten Einspielungen der letzten Jahre in diesem Genre.
Thomas Baack [31.01.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Anon. | ||
1 | Praeludium a 5 vocum in G | 00:05:18 |
Matthias Weckmann | ||
2 | Toccata in e KN 147/3 | 00:04:29 |
3 | Canzon in c KN 147/11 | 00:04:55 |
4 | Toccata vel Praeludium Primi Toni | 00:02:19 |
Jacob d.J. Praetorius | ||
5 | Praeambulum ex d (Herr Gott dich Loben wi) | 00:04:10 |
6 | Herr Gott dich Loben wi | 00:01:05 |
7 | Heilig ist unser Gott (Auff 1 oder 2 Clavier) | 00:00:47 |
8 | Dein göttlich Machtt und Herrligkeitt | 00:00:38 |
9 | Du König der Ehren Jesu Christ | 00:00:51 |
10 | Nun hilff unß Herr den dienern dein | 00:00:50 |
11 | Teglich Herr Gott dich loben wir (Auff 2 Clavier) | 00:00:32 |
Franz Tunder | ||
12 | Herr Gott, dich loben wir (auff 2 Clav.) | 00:07:20 |
Matthias Weckmann | ||
13 | Toccata ex d KN 207/22 | 00:03:09 |
14 | Fuga ex D ped. primi Toni | 00:05:59 |
15 | Canzon Dall istesso Tuono in C KN 147/6 | 00:02:32 |
16 | Kom Heiliger Geist Herre [Gott] | 00:09:51 |
Franz Tunder | ||
19 | Komm Heyliger Geist Herre Gott (Auff 2 Clauier) | 00:06:59 |
Jacob d.J. Praetorius | ||
20 | Praeambulum ex C. b.mol | 00:02:17 |
21 | Christum wir Sollen Loben Schon | 00:04:02 |
Matthias Weckmann | ||
22 | Canzon in d KN 147/ 12 | 00:03:50 |
23 | Toccata dal 12 Tuono in C KN 147/5 | 00:03:42 |
Interpreten der Einspielung
- Peter Westerbrink (Orgel)