Michael Gielen Edition 1
Aufnahmen 1967-2010
SWRmusic SWR19007CD
6 CD • 7h 11min • 1967-2010
08.04.2016
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Michael Gielens letzter Auftritt als Dirigent vor einem großen Sinfonieorchester liegt zwei Jahre zurück. Im nächsten Jahr feiert der gebürtige Dresdener seinen 90. Geburtstag. Michael Gielen war Zeit seines Lebens als Dirigent und Komponist aktiv und machte als kritischer, auch gerne mal unbequemer Erneuerer der Musik von sich reden. Gielens Credo: Das reiche musikalische Erbe aus vielen Jahrhunderten kann in heutiger Zeit erst authentisch aus sich selbst heraus sprechen, wenn es sich mit der musikalischen Gegenwart misst – und dies auch in mutig konzipierten Konzertprogrammen zum Ausdruck kommt. Die eigene distanzierte Haltung zum kommerziellen Musikgeschäft hat Michael Gielen eine gewisse Außenseiterstellung eingebracht. Dafür haben die großen Rundfunksinfonieorchester mit Gielen am Dirigentenpult ihren öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag mit Leidenschaft gepflegt. Viele, heute als legendär betrachtete Aufnahmen wurden bislang nie auf Schallplatte oder CD veröffentlicht. Allein schon deswegen stehen viele Rundfunkmitschnitte heute bei Sammlern hoch im Kurs.
Jetzt füllt das SWR-eigene Label SWRmusic wichtige Lücken, wenn es um eine Gesamtschau von Gielens Lebenswerk geht. Das Volume 1 liegt hiermit vor – und fokussiert in chronologischer Abfolge verschiedene Stilepochen, in denen Gielen nach neuen Bedeutungsebenen in der Musik strebte. Die gewählte Einteilung nach den großen Komponisten eröffnet gute Einblicke in Gielens zeitlose interpretatorische Herangehensweise.
Allein sechs CDs macht diese erste Folge aus. Vereint sind hier Aufnahmen, die Gielen zwischen 1967 und 2010 vor allem mit dem Orchester des SWR, aber auch dem früheren Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken einspielte. Die Gegenüberstellung älterer mit neueren Aufnahmen soll einen Wandel der Interpretationskultur und ebenso den technischen Fortschritt bei der Aufnahmequalität veranschaulichen. Neben solchen Erkenntnissen hinterlässt das Hören dieser Einspielungen umso mehr den Eindruck von Gielens außerordentlicher künstlerischer Kontinuität. Da ist diese allgegenwärtige Stringenz bei den Tempi, zugleich auch ein konsequenter Wille zur lebendigen Entfaltung sämtlicher Energien in der Musik. Den Kompositionen in ihrer Vielschichtigkeit dienen – dafür hat der Musikvermittler Michael Gielen Maßstäbe gesetzt, das macht schon diese umfangreiche Edition deutlich.
Zum Auftakt gibt es den „ganz persönlichen“ Michael Gielen am Flügel zu erleben, der Bachs Präludium und Fuge Nr. 4 cis-Moll interpretiert. Bach sozusagen als Ur-Quelle für musikalische Qualität schlechthin – im Livekonzert hat Michael Gielen gerne auch mal Bach direkt mit Morton Feldman kontrastiert, um damit Modernität auf Augenhöhe, sozusagen über alle Jahrhunderte-Grenzen hinweg, zu demonstrieren. Sicher werden solche spannenden, manchmal auch provokanten Bezüge in späteren Folgen der Edition ebenfalls ausgeleuchtet werden!
Mozart ist ein großes Thema für Michael Gielen. Seine Interpretationen begeben sich ans musikalisch Eingemachte, hier lebt Temperament und Stringenz – manchmal in erschütternder Manier. Gielen weiß, wie man alle wohlfeilen, allzu schönfärberischen Herangehensweisen dynamisch umgeht, wie man stattdessen genug kraftvolles Potenzial aufbietet, damit die Musik direkt und unmittelbar zum Hörer spricht, der heute naturgemäß von allerhand zeitgenössischen Gegenwartseinflüssen überflutetet ist. Unter Gielens Stabführung lebt Mozarts Musik in einem Tempo auf, das der heutigen schnelllebigen Zeit entgegenkommt. Solche Straffungen sind zum Markenzeichen Gielens geworden: Immerhin war „seine“ Zauberflöten-Interpretationen fast zwanzig Minuten kürzer als jene von vielen Kollegen.
Auf der vorliegenden CD stürmen mit viel pointiertem Spielwitz die Ouvertüren der Zauberflöte und von Cosi fan Tutte voran. Das ist eine gute Gesellschaft für Mozarts sinfonische Meilensteine, als da wären die Haffner- und die Linzer-Sinfonie. Entdeckerlust bedient die Edition überdies, wenn sie immer wieder den Blick auf seltener gespielte Kompositionen lenkt, wie zum Beispiel die Sinfonie Nr. 30 KV 202. Drei späte Haydn-Sinfonien machen hier das Hörvergnügen in Sachen vital interpretierter Wiener Klassik komplett.
Michael Gielens heute als legendär geltende Aufführungen von Beethovens Sinfonien werden auf dieser Edition nicht berücksichtigt, hingegen Beethovens Coriolan-Konzertouvertüre c-Moll, aber auch die drei Leonoren-Ouvertüren, welche in unterschiedlichen Jahrzehnten eingespielt, die Unterschiede subtil zum Klingen bringen. Nach wie vor lebt hier der Wille zur Stringenz bei den Tempi und zu einer Akzentuierung, die nicht glatt, sondern mit Ecken und Kanten daherkommt – oder im Sinne von Adorno, (den Gielen außerpordentlich verehrte), einer „reduktiven Drastik“, die jedem überstrapazierten Rubato eine klare Absage erteilt. Ein intensives Kapitel Interpretationsgeschichte tut sich in einer historischen Aufnahme von Beethovens Tripelkonzert C-Dur op. 56 auf. Von Wärme durchdrungen ist diese solistische Sternstunde aus dem Jahr 1969 mit Jörg Demus am Klavier, der Violinistin Edith Peinemann und dem Cellisten Antonio Janigro.
Franz Schuberts intime musikalische Botschaften haben Michael Gielen von Jugend an berührt. „Schubert trifft mich an einem Punkt wie kaum eine andere Musik“ gestand Gielen. In seinem unermüdlichen Schaffen, aber auch seiner unbequemen Art und Weise, mit dem Establishment des Konzertbetriebs ins Gericht zu gehen, kommt auch bei Gielen ein persönliches „Wanderer-Motiv“ zum Ausdruck, wie es bei Schubert für getriebene Unruhe steht. Auf CD wird Schubert Œuvre schlaglichtartig angegangen, mal sehr schwelgerisch durch verschiedene Rosamunde-Bearbeitungen und einem deutlich fragiler daher kommenden Andante h-Moll. Eine weitere ganze CD bringt den religiösen Schubert, wenn sich in einer späten Aufnahme der As-Dur Messe das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie das SWR Vokalensemble Stuttgart auf der Höhe der Zeit präsentieren.
Ein Highlight, das allein schon den Kauf dieser CD-Box lohnt, befindet sich am Ende von CD Nr. 5: Nämlich die von Gustav Mahler initiierte Fassung für Streichorchester von Schuberts Quartettkomposition Der Tod und das Mädchen. Selten erlebt man ein ganzes Orchester in einer solch gebündelten Homogenität und maximal zupackender Stringenz. Gielen und das SWR-Sinfonieorchester zeigen sich einmal mehr als ein perfekt aufeinander eingeschworenes, intensiv spielendes Ganzes, wie es nur aus einer langen, gemeinsamen – und wohl über lange Zeiträume auch wirtschaftlich abgesicherten – Entwicklungsarbeit hervor gehen konnte.
Stefan Pieper [08.04.2016]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Präludium und Fuge Nr. 4 cis-Moll BWV 849 (aus: Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869) | 00:07:01 |
3 | Nun ist das Heil und die Kraft BWV 50 (Kantate) | 00:03:55 |
Wolfgang Amadeus Mozart | ||
4 | Sinfonie Nr. 35 D-Dur KV 385 (Haffner) | 00:18:10 |
8 | Menuett mit eingefügten Kontretänzen Nr. 1 F-Dur KV 463 | 00:02:35 |
9 | Menuett mit eingefügten Kontretänzen Nr. 2 B-Dur KV 463 | 00:02:21 |
10 | Marsch D-Dur KV 249 | 00:03:20 |
11 | Deutscher Tanz Nr. 1 D-Dur KV 605 | 00:01:40 |
12 | Deutscher Tanz Nr. 2 G-Dur KV 605 | 00:01:36 |
13 | Deutscher Tanz Nr. 3 C-Dur KV 605 (Die Schlittenfahrt) | 00:02:39 |
14 | Il Trionfo delle donne KV 605a (Fragment eines Kontretanzes) | 00:00:55 |
15 | Sinfonie Nr. 30 D-Dur KV 202 | 00:20:03 |
19 | Sechs Deutsche Tänze KV 509 | 00:12:10 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Die Zauberflöte KV 620 | 00:07:07 |
2 | Così fan tutte KV 588 | 00:04:11 |
3 | Thamos, König in Ägypten KV 345 | 00:41:17 |
11 | Sinfonie Nr. 36 C-Dur KV 425 (Linzer Sinfonie) | 00:26:04 |
CD/SACD 3 | ||
Joseph Haydn | ||
1 | Sinfonie Nr. 95 c-Moll Hob. I:95 | 00:20:40 |
5 | Sinfonie Nr. 99 Es-Dur Hob. I:99 | 00:22:53 |
9 | Sinfonie Nr. 104 D-Dur Hob. I:104 (Mit dem Dudelsack) | 00:25:16 |
CD/SACD 4 | ||
Ludwig van Beethoven | ||
1 | Coriolan-Ouvertüre c-Moll op. 62 | 00:07:17 |
2 | Leonoren-Ouvertüre Nr. 1 C-Dur op. 138 | 00:09:17 |
3 | Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 C-Dur op. 72a | 00:12:45 |
4 | Leonore-Ouvertüre Nr. 3 C-Dur op. 72a | 00:13:36 |
5 | Konzert C-Dur op. 56 für Violine, Violoncello, Klavier und Orchester (Tripelkonzert) | 00:35:33 |
CD/SACD 5 | ||
Franz Schubert | ||
1 | Die Zauberharfe D 644 (Melodram) | 00:10:34 |
2 | Music to Rosamunde, Princess of Cyprus D 797 | 00:07:23 |
3 | Music to Rosamunde, Princess of Cyprus D 797 | 00:05:44 |
4 | Andante h-Moll D 936a Nr. 2 | 00:11:15 |
5 | Streichquartett d-Moll D 810 op. posth. (Der Tod und das Mädchen - Bearb. für Streichorchester) | 00:37:33 |
CD/SACD 6 | ||
1 | Intende voci B-Dur D 963 für Tenor, Chor und Orchester (Offertorium) | 00:08:13 |
2 | Messe Nr. 5 As-Dur D 678 für Soli, Chor und Orchester | 00:43:56 |
Interpreten der Einspielung
- Rundfunkchor Berlin (Chor)
- Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (Orchester)
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)
- Edda Moser (Sopran)
- Julia Hamari (Alt)
- Werner Hollweg (Tenor)
- Barry McDaniel (Bariton)
- Chor der Württembergischen Staatstheater Stuttgart (Chor)
- Südfunk-Chor Stuttgart (Chor)
- SWR Vokalensemble Stuttgart (Chor)
- Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Chor)
- Edith Peinemann (Violine)
- Antonio Janigro (Violoncello)
- Jörg Demus (Klavier)
- Thomas Moser (Tenor)
- Chor der Slowakischen Philharmonie Bratislava (Chor)
- Sibylla Rubens (Sopran)
- Ingeborg Danz (Alt)
- Dominik Wortig (Tenor)
- Rudolf Rosen (Bass)
- Michael Gielen (Dirigent)