Georg Friedrich Händel
Brockes-Passion HWV 48
cpo 555 286-2
2 CD/SACD stereo/surround • 2h 32min • 2019
04.11.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Das muss ja ein richtiges musikalisches Schaulaufen gewesen sein in Hamburg in der Fastenzeit im Jahre 1722, fast wie ein frühes „Deutschland sucht den Komponisten-Superstar“: Vier verschiedene Vertonungen der Brockes-Passion stellte der damalige Hamburgische Musikdirektor Georg Philipp Telemann neben- bzw. hintereinander: seine eigene, die von Johann Mattheson, die von Reinhard Keiser und die von Georg Friedrich Händel. Wer diesen Wettbewerb gewonnen hat, wissen wir nicht, denn Mattheson hatte selber geschrieben, dass selbst der „behutsamste Kenner einer schönen Musik“ gestehen müsse, er wisse nicht, wem der Vorrang unter diesen vier Komponisten gebühre. So beschreibt es Wolfgang Hirschmann im sehr kundigen und sehr ausführlichen Booklet der Aufnahme der Händel’schen Version beim Label cpo. Bis 1759, so schreibt Hirschmann weiter, habe es noch weitere sieben Vertonungen des deutschen Textes von Barthold Heinrich Brockes gegeben. Dieser Text fasst die Leidensgeschichte Jesu in Verse in einer, so Hirschmann, „artifiziellen, rhetorisch hochgerüsteten Sprache“, die schon bald danach Ablehnung und Empörung erntete. So schreibt der erste Händel-Biograf Friedrich Chrysander 1860: „Das Werk von Brockes ist geschmacklos und sinnlos, strotzt vor übertriebenen oder unwürdigen Bildern.“ Gleichzeitig attestiert er diesem Werk, es sei „von großer sinnlicher Gewalt, die wie ein Theatereffekt sich aufdrängt und wie ein solcher die Hörer überwältigt.“
Händel hat diese Brockes-Passion in sparsamer Orchestrierung gehalten, es gibt fast nur Streicherbegleitung, die oft sogar unisono geführt wird, nur selten gibt er Oboen dazu. Doch Händel kann, trotz dieser sparsamen Orchestrierung, mittels seiner Kunst der dramatischen Raffung die von Chrysander gerügten „übertriebenen oder unwürdigen Bilder“ so schlagkräftig illustrieren, dass sie beim Hören im Kopf Gestalt annehmen. Die „sinnliche Gewalt“ wiederum geht vom Concerto Copenhagen unter der Leitung von Lars Ulrik Mortensen und seinen Solisten aus. Alles ist zwar unaufgeregt, aber so liebevoll und so sorgfältig und mit so viel Leidenschaft musiziert, dass sich sogar im Wohnzimmer im Oktober Passions-Atmosphäre einstellt. Da möchte man doch Hirschmann im Booklet widersprechen, der schreibt, Händels „Vertonung sei eher neutral in einem gravitätischen Kirchenstil“. Diese Aufnahme hört sich weder „neutral“ noch „gravitätisch“ an, sondern eindringlich-dramatisch und emotional bewegt und so, dass sie wahrlich „die Hörer überwältigt“.
So ist das Duett Maria/Jesus (CD 2, Track 33) ergreifend in seinem Mutter-Sohn-Schmerz, so lassen die Oboen in der Arie der „Gläubigen Seele“ (CD 2, Track 43) geradezu alles in Tränen schwimmen, so klagt sich Petrus mit Hilfe der Oboe und mit „sinnlicher Gewalt“ an, dass er Jesus verleumdet hat (CD 1, Track 38), so malen die Violinen mittels einer trauernden Begleitfigur das von der Tochter Zion besungene Wimmern, Seufzen, Sehnen, das die Sopranistin in der Stimme hören lässt (CD1, Track 20).
Der Chor spielt hier keine große, schon gar jeine dramaturgische Rolle. Alle Solisten sind versiert im Barockgesang, artikulieren sorgfältig und wortdeutlich und deklamieren leidenschaftlich. Der Evangelist (Ed Lyon) hat keine so tragende Rolle wie später bei Bach, eher die „Tochter Zion“, die hervorragend klar gesungen wird von den drei Sopranistinnen. Alle Stimmen sind angenehm natürlich timbriert, Judas ist ein Altus (schön fies: Daniel Carlsson), viel Gewicht hat Petrus als Tenor: Gwilym Bowen hat die verlangte „Gift und Glut“ in der Stimme (CD 1, Track 28), aber auch die hilflose Wut am Ölberg (CD 1, Track 32): ein weiter emotionaler Ambitus, den der Tenor großartig beschreitet. Als Christus singt Peter Hervey feierlich und bisweilen elegisch, auch erbarmungsvoll-schmerzreich im von den Geigen angstzitternd begleiteten Accompagnato am Ölberg (CD 1, Track 15 und 17).
Rainer W. Janka [04.11.2019]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Georg Friedrich Händel | ||
1 | Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus HWV 48 (Passionsoratorium nach Barthold Heinrich Brockes) | 01:32:20 |
Interpreten der Einspielung
- Maria Keohane (Sopran)
- Joanne Lunn (Sopran)
- Hanna Zumsande (Sopran)
- Daniel Carlsson (Altus)
- Daniel Elgersma (Altus)
- Edward Lyon (Tenor)
- Gwilym Bowen (Tenor)
- Peter Harvey (Bass)
- Jakob Bloch Jespersen (Bass)
- Concerto Copenhagen (Ensemble)
- Lars Ulrik Mortensen (Dirigent)