Neue Bahnen
Alexey Pudinov Piano
Kaleidos KAL 6350-2
1 CD • 75min • 2020
15.04.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Der Titel „Neue Bahnen“ mutet zunächst irreführend an, wo das Programm doch zum großen Teil vertrautes Repertoire erwarten lässt. Aber diesen Eindruck relativiert der Pianist Alexey Pudinov vom ersten Ton seines Debüt-Soloalbums an. Seine Art, sich Repertoire einzuverleiben, den Notentext zu hinterfragen und alles im Licht der eigenen Emotionalität neu aufleben zu lassen –- das hat doch in jedem Moment dieser Aufnahme mit Neuerkundung zu tun.
Dass eine selbstbewusste Klangsprache Sache von Alexey Pudinov ist, zeigt schon der Beginn der Klaviersonate von Johannes Brahms Nr. 2 fis-Moll op. 2. Allein, wie er die Phrasen mit subtilen, manchmal ungestümen Crescendi auflädt, das ist schon Spannung pur. Das durchzieht sämtliche vier Sätze, wodurch die emotionale Bandbreite dieser kollossalen Sonate zum „Abendprogramm“ wird – mit mächtigen Steigerungen, aber auch einer in die Tiefe gehenden Lyrik. Pudinov ist aber keineswegs nur der entfesselte Tastenstürmer, sondern ebenso ein empfindsamer Spurensucher. Das zeigt sich in Frédéric Chopins Ballade Nr. 4, einer traumverlorenen Reflexion, bevor in weiten, rasanten Bögen der emotionale Sturm losbricht.
Beeindruckende Charakterstücke
Rachmaninovs Moments Musicaux sind deutlich analytischer akzentuiert, es geht ja auch um nichts geringeres als die Ergründung der eigenen kulturellen Wurzeln dieses seinerzeit international gefragten Pianisten. Vor allem in diesen drei Charakterstücken beeindruckt die erzählende Kraft in Pudinovs Spiel. Wie flexibel, virtuos und reaktionsschnell sich das Potenzial von Pudinov steigert, zeigt sich als nächstes beim Vorstoß in neuere Zeitalter: Gershwins Summertime verweigerte sich bei seiner Entstehung den rigiden Schubladen zwischen ernster und Unterhaltungsmusik und wurde in Fazil Says pianistischer Bearbeitung umso mehr zum furiosen Jazzstück. Fazil Say hat den Klaviersatz spieltechnisch auf die Spitze getrieben, was auch Alexey Pudinov dazu herausfordert, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaus zu blicken: Den Jazzer, der sich auf feinsinnig-dezidierte Strukteren eines komponierten Satzes einlassen darf, den Klassik-Pianisten, der hier idealerweise „Swing“ erzeugt, was ja auch mit Agogik viel zu tun hat.
Musikalisches Neuland
Von diesem berühmten „Standard“ aus, geht es in echtes musikalische Neuland hinein: Dennis Tjioks Interpretation eines Bildes von Mark Rothko mutet gar nicht so monochom wie Rothkos Malerei an. Dafür breitet dieses Stück, leichtfüßig von Pudinov in Fahrt gebracht, meditative Girlanden, die in ihrer repetitiven Strukturen auf die Dauer immer rasanter werden. Johann Sebastian Bach wurde von Alexander Siloti weitergedacht, der dessen Präludium b-Moll zu Leibe rückte – und sich Pudinov als wacher Interpret auf die Neufassung einer alten Komposition einlässt. Sein Spiel ist von jeder formalen Strenge entkleidet, dafür lässt es einen schwebend-balladesken Bogen atmen, der in traumhafte Sphären versetzen kann. Und man wundert sich, dass 75 Minuten Spieldauer wie im Flug vergangen sind. Was dafür spricht, dass Pudinov diese CD mit viel Bedacht als ein Ganzes „komponiert“ haben muss. „Neue Bahnen“ im Sinne von Alexey Pudinov heißt, sich scheinbar Vertrautem neu zu öffnen, damit es einem näher kommt.
Stefan Pieper [15.04.2021]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johannes Brahms | ||
1 | Klaviersonate Nr. 2 fis-Moll op. 2 | 00:28:21 |
Frédéric Chopin | ||
5 | Ballade Nr. 4 f-Moll op. 52 Nr. 4 | 00:11:58 |
Sergej Rachmaninow | ||
6 | Moment musical h-Moll op. 16 Nr. 3 | 00:08:44 |
7 | Moment musical e-Moll op. 16 Nr. 4 | 00:02:57 |
8 | Moment musical Des-Dur op. 16 Nr. 5 | 00:04:35 |
Fazil Say | ||
9 | Summertime Variations | 00:07:03 |
Dennis Tjiok | ||
10 | Impressions on Rothko op. 23 | 00:07:41 |
Johann Sebastian Bach | ||
13 | Präludium h-Moll BWV 855a | 00:03:08 |
Interpreten der Einspielung
- Alexey Pudinov (Klavier)