Castrapolis
Neapolitan Cantatas and Arias
BIS 2585
1 CD/SACD stereo/surround • 81min • 2021
02.12.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Sage von den Sirenen (Vögel mit Frauengesichtern) und ihrem todbringenden Gesang ist von den Dichtern der Antike häufig bearbeitet worden. Bei Homer lesen wir im 12. Gesang der Odyssee, wie der Heros sich und seine Mannschaft vor ihnen schützte und wie sie sich daraufhin ins Tyrrhenische Meer stürzten. Eine von ihnen, Parthenope, wurde tot am Strande des späteren Neapel angeschwemmt, das lange Zeit ihren Namen trug. Der musikalische Gründungsmythos der Stadt erhielt seit dem 17. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Kastraten, die durch ihre „Sirenengesänge“ in Kirchen und Theatern das Publikum entzückten und Reisende aus allen Ländern anzogen, neue Nahrung. „Castrapolis“ nannte sie deshalb der Autor Dominique Fernandez in seinem Roman Porporino ou les mystères de Naples (1974). Das vorliegende Album greift diese Bezeichnung als Titel auf und dokumentiert die neapolitanische Kastratenkultur an einigen prägnanten Musikbeispielen, wobei es auch Entdeckungen zu machen gibt.
Liebes Leid und Lust
Etwa Il ritorno di Ulisse alla patria (1707), die erste Oper des gebürtigen Neapolitaners Giuseppe Porsile (1680-1750), der später Kapellmeister der kaiserlichen Hofkapelle in Wien wurde. Sie hat mit dem (fast) gleichnamigen Werk Claudio Monteverdis nicht viel zu tun. Zwar ist Homers Odyssee hier wie dort die literarische Vorlage, aber der Librettist hat das dortige Personal durch einige – teilweise auch komische – Figuren angereichert. Zum Beispiel Creonte, König von Candia, der begehrliche Blicke auf Penelope wirft, oder seine Frau Elvira, die in Männerkleidern als General Nestor auftritt. Beide Rollen wurden von Kastraten gesungen, während Odysseus‘ Sohn Telemach, hier in Liebe zu einer Cirene entbrannt, die eine Hosenrolle für eine Sopranistin war. Im vorliegenden Recital werden alle drei Rollen von einem Sänger gesungen. Die sechs überwiegend kurzen Dacapo-Arien zeugen vom außerordentlichen Talent des jungen Komponisten, der sich nicht nur melodisch einfallsreich zeigt, sondern auch in den Stimmungen und im Einsatz der Instrumente für Abwechslung sorgt.
Alessandro Scarlatti (1660-1725), der Vater Domenicos, war in seiner Zeit der wichtigste Exponent der neapolitanischen Oper und soll über 800 Kantaten komponiert haben. In der hier ausgewählten, Quella pace gradita, im Wechsel von drei Rezitativen und drei Arien angelegt, beklagt sich der Protagonist über unerwiderte Liebe und sucht davor flüchtend sein Heil in der Natur, wo sich sein Gesang mit den lieblichen Klängen einer Flöte verbindet, unterstützt durch Solo-Violine, Violoncello und Basso continuo. Dieselbe Kantatenform findet sich in Dimmi bel neo che fai des aus Apulien stammenden Domenico Sarro (1679-1744), der auch in der Oper erfolgreich war. Nur vom basso continuo begleitet, gibt sich hier das lyrische Ich Betrachtungen über ein Muttermal an der Lippe der Geliebten hin, das ihm Ausdruck ihrer Zärtlichkeit, aber auch ihrer Grausamkeit zu sein scheint.
Paradiesische Klänge
Johann Adolf Hasse (1699-1783), als Schüler Alessandro Scarlattis nach Neapel gekommen, blieb dem italienischen Stil ein Leben lang treu. Gemeinsam mit seiner Frau Faustina Bordoni wurde er später an den Dresdner Hof engagiert, wo 1751 auch seine Oper Ciro riconosciuto auf einen Text von Pietro Metastasio herauskam. Eine für einen Kastraten geschriebene Arie daraus leitet das Programm ein. Ein willkommenes instrumentales Intermezzo bietet das dreisätzige Cembalokonzert in C-Dur von Domenico Auletta (1723-1753), dessen musikalischem Charme man sich nicht entziehen kann, zumindest nicht in der schwerelosen und eleganten Interpretation von Anna Paradiso, die zugleich für die Konzeption und die Musikauswahl dieses Albums verantwortlich zeichnet.
Ihr schwedischer Ehemann Dan Laurin, der die musikalische Gesamtleitung innehat, ist einer der international bekanntesten Blockflöten-Virtuosen und er zaubert gemeinsam mit dem Ensemble Dolci Affetti wahrhaft „paradiesische“ Klänge, wie sie schon der Name der Cembalistin verspricht. Dreizehn Musiker sind im Einsatz, aber oft reicht schon ein einziger. Der als Countertenor annoncierte Sänger Nicolò Balducci ist in Wahrheit ein Sopranist reinsten Wassers, der in den lyrischen und kontemplativen Stücken eine sehr weibliche vokale Ausstrahlung hat und sirenenhaft bestrickende Töne produziert, sobald er dramatischer wird (so in einigen Arien aus Porsiles Oper) aber auch das Hysterische streift. Gleichsam als „Zugabe“ singt er, nur von einer Barockgitarre begleitet, eine Tarantella im apulischen Dialekt.
Ekkehard Pluta [02.12.2022]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johann Adolf Hasse | ||
1 | Non piangete, amati rai (1. Akt, Arie der Cambise - aus: Ciro riconosciuto) | 00:07:45 |
Giuseppe Porsile | ||
2 | Sventurato chi piagato (aus: Il ritorno di Ulisse alla patria) | 00:01:44 |
3 | Tu sei crudel così (aus: Il ritorno di Ulisse alla patria) | 00:02:51 |
4 | Apri Cirene i lumi (aus: Il ritorno di Ulisse alla patria) | 00:05:36 |
5 | Fiero sdegno dell'alma guerriero (aus: Il ritorno di Ulisse alla patria) | 00:02:42 |
6 | Quel volto vezzoso (aus: Il ritorno di Ulisse alla patria) | 00:03:15 |
7 | Mi preparo a trionfar (aus: Il ritorno di Ulisse alla patria) | 00:02:54 |
Alessandro Scarlatti | ||
8 | Quella pace gradita (Kantate) | 00:18:16 |
Domenico Auletta | ||
15 | Concerto C-Dur für Cembalo, 2 Violinen und B.c. | 00:18:19 |
Domenico Natale Sarro | ||
19 | Dimmi bel neo che fai (Kantate) | 00:11:50 |
trad. | ||
25 | Tarantella del Gargano | 00:04:30 |
Interpreten der Einspielung
- Nicolò Balducci (Countertenor)
- Anna Paradiso (Cembalo)
- Dolci Affetti (Ensemble)
- Dan Laurin (Leitung)