Josef Matthias Hauer
Early Piano Music
MDG 613 2220-2
1 CD • 75min • 2020
18.04.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Josef Matthias Hauer (1883–1959) ist heute vor allem dadurch bekannt, dass er gleichzeitig mit Schönberg eine Form von Zwölftonmusik entwickelte, die sich allerdings von der Musik der Zweiten Wiener Schule in vielerlei Hinsicht erheblich unterscheidet, etwa in ihrem bewussten Verzicht auf expressiv-dramatische Gestaltung. So skurril seine Persönlichkeit anmuten mag (von der das wohl einzige Filmdokument mit ihm, auf YouTube unter dem schlichten Titel „Josef Matthias Hauer“ zu finden, ein beredtes Zeugnis ablegt) und so irritierend seine Ästhetik auch erst einmal wirken mag, geht doch etwa von den Zwölftonspielen, die Hauer in seinen späten Jahren in Massen komponierte, eine ganz eigene, faszinierende Wirkung aus, ein weltvergessenes, in sich ruhendes (oder um sich selbst kreisendes), überraschend konsonantes Spiel eben der (zwölf) Töne. Der Pianist Steffen Schleiermacher, der sich seit Jahren in diversen CD-Produktionen für die Musik dieses großen Einsamen einsetzt, widmet sich auf seinem neuesten Album nun insbesondere Hauers Frühwerk, also schwerpunktmäßig Musik vor seinem erstem Zwölftonwerk (op. 19).
Von freier Atonalität zu sphinxhaften Nachklängen
So beginnt die CD mit Hauers Opus 1, einem Zyklus von sieben kurzen Stücken aus dem Jahre 1912, Nomos genannt und auch in einer Fassung für großes Orchester überliefert, die dann als Sinfonie Nr. 1 fungiert (die exakten Hintergründe, von Schleiermacher im Beiheft erläutert, sind noch eine Spur verworrener). In freier Atonalität gehalten, lassen diese Stücke bei all ihrer Kürze sehr wohl eben doch noch eine gewisse Expressivität und in Ansätzen auch Dramatik erkennen, etwa gleich im auffahrenden Gestus des Beginns des Vorgesangs. Insofern stehen die ein Jahr später entstandenen Sieben kleinen Stücke op. 3, kurze Miniaturen, zumeist in langsamen Tempi gehalten und von zart dahingetupften Klängen geprägt, der in sich gekehrten, kontemplativen Art des reifen Hauer ein Stück weit näher. Die Fünf Klavierstücke op. 15 (1919) repräsentieren Hauers Interesse am Kontrapunkt, während die im selben Jahr entstandenen Nachklangstudien op. 16, in denen Hauer ganz im Sinne des Titels mit lang gehaltenem Pedal richtiggehend den Klängen nachhört, eine echte kleine Preziose darstellen. Wenn etwa gleich das erste Stück über eine Art Ambiguität zwischen A-Dur und cis-moll in hauchzarten, vom Pedal endlos gedehnten Klängen nachsinnt, dann ist das Musik von einer ganz eigentümlichen, magischen Atmosphärik, der etwas Sphinxhaftes innewohnt, oder – in den Worten eines Zeitgenossen – das „Lächeln Gottes“.
Ein reizvoller, assoziationsreicher „Musik-Film“
Mehr als die Hälfte der Spielzeit nimmt schließlich der letzte hier versammelte Werkzyklus ein, der Musik-Film op. 51, der – komponiert 1927 – genau genommen nicht mehr Hauers Frühwerk angehört. Tatsächlich zeigt sich Hauer in diesen 21 kleinen Stücken, die in nicht näher bestimmter Weise vom Film inspiriert sind oder vielleicht sogar für den Film gedacht waren, von einer in mancher Hinsicht geradezu atypischen Seite: kaum einmal sonst erlebt man den Komponisten so konkret, ja geerdet wie in diesen Miniaturen. Das beginnt bereits mit der Wahl der Titel (u.a. Schmachtende Liebe, Entschlossener Angriff, Reiterstückchen, Sport u.v.m.), aber auch in der manchmal ganz direkt eingängigen Melodik dieser Stückchen. So erinnert das Andante (Nr. 14) tatsächlich ein wenig an Kabalewskis Märchen op. 27 Nr. 20, eine bei Hauer ansonsten eigentlich absurde Parallele (und natürlich eine Koinzidenz), und das abschließende Spatzenballett ist geradezu zauberhaft. Dabei verleugnet der Komponist sein eigentliches Idiom keineswegs (deutlich ausgeprägt z.B. in Nr. 20 Schleichende Stunden). Ein sehr schöner, assoziationsreicher und unmittelbar zugängiger Zyklus.
Schleiermachers fortgesetztes Engagement für Hauers Musik
Es ist gerade der Musik-Film, in dem sich Schleiermacher am Klavier besonders inspiriert zeigt und die intimen, von dezenter Wärme geprägten Miniaturen beredt und charaktervoll darbietet. Generell neigt Schleiermacher zu einem eher nüchternen, sachlichen Interpretationsansatz, und trotz Hauers Ablehnung von Expression und Drama gäbe es in einigen der übrigen Stücke noch Raum für ein intensiveres Herausarbeiten der Linien dieser Musik, so etwa die allmählich absteigende Bewegung zu Beginn des ersten der Stücke op. 3 oder die sanften Echoeffekte im letzten Stück desselben Zyklus, später durch Fermaten gekennzeichnet, aber auch vorher bereits als rhythmische Figur am Phrasenende präsent, die etwas direkt, mit zu wenig Geheimnis geraten. Etwas irritierend ist, dass sich Schleiermacher ganz am Ende der letzten Nachklangstudie noch einmal für einen Pedalwechsel entscheidet (und so eine Reihe von Tönen eben nicht nachklingen lässt). Wie auch immer: selbstverständlich gebührt Schleiermacher entschiedene Anerkennung für seinen fortgesetzten Einsatz für das Schaffen Hauers.
Holger Sambale [18.04.2023]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Josef Matthias Hauer | ||
1 | Nomos op. 1 | 00:15:10 |
8 | Sieben kleine Klavierstücke op. 3 | 00:09:32 |
15 | Fünf Klavierstücke op. 15 | 00:04:18 |
20 | Nachklangstudien op. 16 | 00:05:29 |
25 | Musik-Film op. 51 (eine Folge von kleinen charakteristischen Stücke für Pianoforte) | 00:40:32 |
Interpreten der Einspielung
- Steffen Schleiermacher (Klavier)