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Besprechung CD

Henry Desmarest

Circé

cpo 555 594-2

3 CD • 3h 19min • 2022

04.09.2023

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Die Diskographie des Komponisten Henry Desmarest (1661 – 1741) ist nicht gerade üppig. Um so überraschender, dass ausgerechnet in diesem Jahr gleich zwei Aufnahmen seiner dritten Oper Circé aus dem Jahr 1694 herausgekommen sind, die bislang laut Andreas Ommers Verzeichnis im Katalog noch gar nicht vertreten war. Die Alternative zur vorliegenden Produktion entstand unter der Leitung von Sébastien d´Hérin (Chateau de Versailles/Note 1) und ist auffälligerweise eine Dreiviertelstunde kürzer als die Gesamtaufnahme von cpo, die hier besprochen wird.

Flexible musikalische Prosa

Diese Diskrepanz, die vermutlich durch Striche entstanden ist, deutet auf kein Problem dieser Oper, aber doch auf ein Thema hin, mit dem sich Interpreten auseinandersetzen müssen: die Länge des Stücks. In Desmarests Epoche – er ist kurze Zeit nach Henry Purcell geboren, hat seinen englischen Namensvetter aber um fast 40 Jahre überlebt – war die zeitliche Ausdehnung bekanntlich durchaus üblich. Zu Lebzeiten wurde Desmarest zu Unrecht dazu noch eine allzu starke Orientierung am 30 Jahre älteren und bis heute ungleich berühmteren Lully unterstellt.

Der heutige Hörer kann diese annähernd dreieinhalb Stunden lange Circé ohne dieses Vorurteil hören und wird zunächst einmal von der Qualität der Musik angetan sein. Faszinierend ist etwa, wie subtil der junge Komponist Rezitative und Ariosi ineinander übergehen lässt, wobei die ständigen Metrumwechsel eine frappierende Flexibilität der musikalischen Prosa ermöglichen. Die schönen Chöre sind mit Soli aufgelockert, durch die eingeschobenen Tänze wirkt die Form abwechslungsreich, selbst, wenn, wie es die musikalischen Leiter dieser Gesamteinspielung tun, die zeittypischen Wiederholungen realisiert werden.

Länge durch Eile

Dennoch lässt sich aber bei der Rezeption dieser Circé ohne begleitendes Bühnenspektakel abschnittsweise eben auch eine gewisse Kleinteiligkeit nicht ganz überhören, wobei wir wieder bei der Länge sind. Diese macht sich um so stärker bemerkbar, je kürzer und zahlreicher die einzelnen Nummern sind, ein Eindruck, der durch die fast durchgehend sehr raschen Tempi noch intensiviert wird. Warum die Eile? Hat eine gewisse diesbezügliche Konformität vielleicht damit zu tun, dass die Einspielung inklusive des Chormeisters gleich drei musikalische Leiter nennt, nämlich Paul O´Dette, Stephen Stubbs und Robert Mealy? Hätte eine einzelne Leitungsfigur vielleicht auch einmal den Willen zu einem vertieften Largo oder Grave ausbilden können? Die Vermutung des Rezensenten ist, dass manche Szenenfolge der fünf Akte in der Wahrnehmung des Hörers weniger langatmig gewirkt hätte, gerade, wenn man sich mehr Zeit gelassen hätte, die Informationsdichte dadurch gestreckt und somit weniger bewusst geworden wäre – jenes Phänomen, das man von Ravels Boléro her kennt, der bekanntlich je länger wirkt, je schneller das gewählte Tempo ist.

Exaktes Orchester, ausgezeichnete Sängerinnen und Sänger

Was man dem knapp 30köpfigen Boston Early Music Festival Orchestra bescheinigen muss, ist eine überaus genaue Einstudierung, die sich in einem einheitlichen, straffen Bewegungsgestus äußert. Die Holzbläser treten eher gepflegt als solistisch aufmüpfig in Erscheinung, der charakteristisch dichte, fünfstimmige Streichersatz klingt erdig, aber auch ein wenig stumpf; auf jeden Fall atmet er nicht. Zum Teil wird die begrenzte Farbgebung des Orchesters wieder wettgemacht durch einen reich bestückten „Basse-Continue“, als welcher der Generalbass im zeitgenössischen Partiturdruck bezeichnet wird; außer Cembalo und Theorbe finden sich auch Gitarre und allerlei interessante, manchmal auch etwas schräge Schlagzeugeffekte wie Glöckchen und Vogelzwitschern.

Das größte Pfund, mit dem das Leitungsteam wuchern kann, ist die vokale Besetzung. Jede einzelne Partie aus der Fülle von fast 20 Rollen wird ausgezeichnet gesungen, alle Sängerinnen und Sänger deklamieren hervorragend deutlich und gemessen ausdrucksvoll. Ein Schmuckstück ist Lucile Richardot, die die Titelrolle mit ihrem stark sinnlich wirkenden, verheißungsvoll dunkel timbrierten Mezzosopran als wahrlich magiebegabte Verführerin verkörpert. Ulisse, so wird auf der Ebene der Ensembledynamik suggeriert, hat Ulisse gegen diese Circé eigentlich keine Chance, so hyperlyrisch, tenoral mehr knabenhaft unbedarft als männlich tapfer, legt Aaron Sheehan den Helden an. Dass es sich hier um den listenreichen Odysseus handeln soll, wie Homer ihn im Epos immer wieder nennt, hört man nicht – oder diese Ausgabe wandelt von Anfang an auf Freiersfüßen. Der leichte, gerade Sopran von Teresa Wakim als Asterie erhält im Verlauf der Oper zunehmend Charakter, Jesse Blumberg als Elphénor führt seinen jugendlich schlanken Bariton sehr fokussiert, die Éolie der Amanda Forsythe besticht mit ihrer charmanten Art und damit, wie sie auch im zurückgenommenen Hauchen noch über immenses sopranistisches Material verfügen kann.

Interessant wäre zu sehen und zu hören, ob in einer Inszenierung von Henry Desmarests Circé die Längen verschwinden – gesetzt, eine solche Produktion käme ohne Striche aus ...

Prof. Michael B. Weiß [04.09.2023]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Henry Desmarest
1Circé 03:19:05

Interpreten der Einspielung

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