Parallel 40
Belinfante Quartet
7 Mountain Records 7MNTN-049
1 CD • 77min • 2023
05.05.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Pau Marquès i Oleo, der Cellist des jungen niederländischen Belinfante Quartets, stammt von der Insel Menorca, deren Lage auf dem 40. Breitengrad Nord Inspiration, Ausgangs- und auch Zielpunkt des vorliegenden neuen Albums des Quartetts ist. In 21 Tracks und 17 verschiedenen Stationen geht es – eben gerade auf diesem Breitengrad – einmal rund um den Globus mit musikalischen Visitenkarten aus aller Welt, teils Originalwerke für Streichquartett, teils Arrangements von Volks- oder Kunstmusik der jeweiligen Länder.
Ein buntes Panorama mit allerlei roten Fäden
Wenn in (in diesem Kontext muss man sagen: gerade einmal) 80 Minuten eine solch umfangreiche musikalische Reise stattfindet, dann geschieht dies natürlich notwendigerweise im Sinne einer persönlich gefärbten Auswahl, einer kaleidoskopisch-bunten Ansammlung von Aspekten, Impressionen und Ausschnitten aus Jahrhunderten von Musik und teilweise auch aus größeren Werken. Interessant ist dabei zu beobachten, dass das Programm des Belinfante Quartets bei aller Heterogenität eine ganze Reihe von roten Fäden aufweist. In dieser Hinsicht sind die Bearbeitungen von menorquinischen Volksliedern von Marquès i Oleo selbst, mit denen die CD beginnt (und auch fast, bis auf eine kleine Zugabe nämlich, schließt), aufschlussreich. Zum einen durchzieht das Interesse an Folklore das gesamte Programm, manchmal in verarbeiteter Form, manchmal aber auch als relativ unmittelbare Bearbeitung. Zum anderen sind Marquès’ Arrangements der Lieder zwar relativ einfach gehalten, er ist dabei aber bestrebt, Atmosphäre, eine Szenerie zu schaffen, die sich vergleichsweise direkt an Geräuschen der Umgebung orientiert, also mit einem Schuss Naturalismus, ohne allzu drastisch zu werden. Gerne steht am Anfang erst einmal (nahezu) Stille, allmähliches Erwachen; mehr oder weniger dezent werden auch erweiterte Spieltechniken oder musikalische Mittel wie Mikrotonalität (bei der Nachahmung traditioneller Flöten) mit einbezogen.
Von Folklore und den Anfängen des Streichquartetts bis zur Minimal Music
All diesen Elementen begegnet man im Laufe des Albums regelmäßig wieder, so bei der Imitation von gutturalem Gesang (u.a. mit reichlich Glissandi) im sardischen Volkslied Sa Brunedda, oder der ganz eigenen, gewissermaßen „modernistischen“ Interpretation des traditionellen koreanischen Liedes Arirang, das das Quartett wiederum aus dem Ungefähren entstehen lässt. Ganz ähnlich spielt sich aber auch die in sacht dissonierenden, quasi-improvisatorischen Linien, die sich in einem bewegten Mittelteil konkretisieren, verlaufende New Invitation der Usbekin Polina Medyulyanova (Jg. 1974, Enkelin des Komponisten Boris Gijenko) ab. Schiere Lust an der Imitation von Volksinstrumenten zeigen die Arrangements von Musik der Aserbaidschanerin Şəfiqə Axundova (1924–2013) oder des Kirgisen Atai Ogonbajew (1904–1949), manchmal fast rauer als das Original anmutend. Mit ebensolcher Verve begegnen die jungen Musiker Terry Rileys Sunrise of the Planetary Dream Collector (1980), dessen Gestaltungsfreiheiten das Quartett u.a. zu einer kleinen Gesangseinlage kurz vor Schluss animiert. Minimal Music ist wiederum die Brücke zum 1. Satz des Streichquartetts Nr. 1 des Japaners Joe Hisaishi (Jg. 1950), während Tan Dun in zweien seiner 1986 entstandenen Eight Colors for String Quartet ein ganzes Ende avantgardistischer, klanglich geschärfter anmutet als in manch anderen seiner Werke. Der Schwerpunkt des Programms liegt eindeutig auf dem 20. Jahrhundert, aber mit dem 1. Satz der Sonata a quattro Nr. 3 von Alessandro Scarlatti geht das Ensemble punktuell bis zur (Quasi-) Geburtsstunde des Streichquartetts zurück, und mit einem Hymnus von Ioannis Koukouzelis sogar bis ins 14. Jahrhundert.
Willkommene Begegnungen mit der Musikkultur Zentralasiens
Ein besonderer Pluspunkt des Programms besteht darin, dass ein Schlaglicht auf die Musik Zentralasiens geworfen wird – so waren die Turkmenen Baýram Hudaýnazarow (Jg. 1946) und Nury Halmämmedow (1938–1983) jeweils mit einer Reihe von Werken auf Melodija-Schallplatten vertreten, spielen aber seit dem Ende der UdSSR diskographisch keine Rolle mehr. Hier gibt es viel Interessantes zu entdecken. Viel bekannter (jedenfalls in Relation) natürlich Saygun oder Skalkottas, wobei am 3. Satz von Sayguns Streichquartett Nr. 1, dieser eigentümlichen Begegnung von Menuett und türkischer Folklore, im Vergleich zum Quatuor Danel der etwas rauere Klang des Belinfante Quartets auffällt, der überhaupt für ihr Spiel charakteristisch erscheint. Wenn das Programm am Ende auf die iberische Halbinsel zurückkehrt, wird der Klang der Gitarre heraufbeschworen, wobei das Arrangement von Tárregas Recuerdos de la Alhambra nicht ganz das Flimmern, das Flirren des Originals erreicht. Ich muss zugeben, dem Samplerhaften des Albums zu Beginn mit einer gewissen Skepsis begegnet zu sein, und natürlich wäre es an manchen (speziell den weniger geläufigen) Punkten schön, wenn sich Anknüpfungspunkte ergeben würden, aus den musikalischen Postkarten eingehendere Studien würden. Am Ende steht aber in der Summe ein bunter Reigen mit vielen Anregungen, der viel Hörvergnügen bereitet.
Holger Sambale [05.05.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Pau Marquès i Oleo | ||
1 | Tonada de treure aigo / Tonada d'espigolar | 00:02:41 |
2 | Toc de fabiol | 00:01:54 |
trad. | ||
3 | Sa Brunedda (Sardinia) | 00:03:25 |
Alessandro Scarlatti | ||
4 | Sonate a quattro No. 3: I. Fuga | 00:02:34 |
Ioannis Koukouzelis | ||
5 | Ainete ton Kyrion (Praise the Lord from Heaven) | 00:03:54 |
Nikos Skalkottas | ||
6 | Fünf Griechische Tänze: I. Epirotikos | 00:01:57 |
Ahmed Adnan Saygun | ||
7 | Streichquartett Nr. 1 op. 27, 3. Satz Allegretto | 00:04:07 |
Soghomon Soghomonian Komitas | ||
8 | Fourteen Pieces on Themes of Armenian Folk Songs: XI. Festive Song | 00:01:35 |
Shafiga Akhundova | ||
9 | Prologue to Galin Gayasi (Maiden Rock) | 00:04:37 |
Baýram Hudaýnazarov | ||
10 | Ýylgaýlar halk sazyna konsertino (Concerto to Folk Music) | 00:04:48 |
Polina Medyulyanova | ||
11 | New Initiation | 00:07:35 |
Atai Ogonbaev | ||
12 | Mash botoy | 00:01:59 |
Tan Dun | ||
13 | Eight Colors For String Quartet: I. Peking Opera | 00:02:11 |
14 | Eight Colors For String Quartet: VIII. Red Sona | 00:01:37 |
trad. | ||
15 | Arirang (Korean. Volkslied) | 00:02:04 |
Joe Hisaishi | ||
16 | String Quartet No. 1: I. Encounter | 00:06:14 |
Terry Riley | ||
17 | Sunrise of the Planetary Dream Collector | 00:12:25 |
Carlos Paredes | ||
18 | Canção Verdes Anos | 00:02:04 |
Francisco Tárrega | ||
19 | Recuerdos de la Alhambra | 00:03:31 |
Pau Marquès i Oleo | ||
20 | A la vora de la mar | 00:04:06 |
Nury Halmämedov | ||
21 | Gyzlaryň aýdymy (The Song of the Girls) | 00:01:29 |
Interpreten der Einspielung
- Belinfante Quartet (Streichquartett)