BIS CD-1420
1 CD • 72min • 2004
24.01.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Genau zehn Jahre jünger als Heitor Villa-Lobos war Francisco Mignone, der 1897 als Sohn italienischer Eltern in São Paolo geboren, zunächst von seinem Vater, dem Flötisten Alferio Mignone, dann von weiteren italienischen Auswanderern und schließlich am Mailänder Konservatorium bei dem Massenet-Schüler Vincenzo Ferroni ausgebildet wurde. Anders als der brasilianische Autodidakt und Publikumsschreck bewegte sich Mignone also in einer kulturellen Enklave, die zunächst mehr von Scala und Serenata definiert wurde als von den Eigenarten der schwarzen oder indianischen Musik – und das machte ihm den Beginn seiner Karriere nicht eben leicht, zumal seine ersten großen Werke zu einer Zeit erschienen, als man in Brasilien unter dem Begriff des „Modernismo” gerade erst zum Generalangriff auf alle akademischen Regeln geblasen hatte.
Auch Mignone beugte sich dem Diktat und tappte damit in dieselbe Falle, die vor jeder nationalen Musik aufgestellt ist: Wer aus der Folklore nicht, wie etwa Bartók oder auch der Türke Saygun, übergreifende oder fundamentale Gesetze ableitet und diese in eine eigene Idiomatik ummünzt, der wird nach einiger Zeit im bloßen Kolorit steckenbleiben – ganz gleich, wie ursprünglich, explosiv, fesselnd und erfolgversprechend das benutzte Material auch sein mag.
Die drei auf dieser CD versammelten Werke können natürlich kaum das Portrait eines Komponisten liefern, der – wie uns das etwas eigentümlich gehaltene Booklet wissen läßt – in den sechziger Jahren sogar bis in Bereiche des Serialismus vordrang, um sich aus dem folkloristischen Engpaß zu befreien, in den er sich als etwa Dreißigjähriger hineinmanövriert hatte. Immer ist das Programm aber doch so angelegt, daß wir etwas von Mignones ständiger Suche nach einer eigenen Identität und von den Problemen spüren, mit denen dieser Weg gepflastert war.
Eben diese Suche scheint den gesamten Verlauf der Sinfonia tropical von 1958 zu bestimmen, einer einsätzigen Komposition, die in oft schroffen Schnitten, plötzlichen Stimmungsumschwüngen, unverbundenen, mitunter förmlich inkonsequenten Rissen teils gewalttätige, teils wirklich zauberhafte Momente nebeneinanderstellt, ohne daß sich während der rund zwanzigminütigen Aufführungsdauer (und auch nach wiederholtem Hören) ein Gefühl des sinfonischen Zusammenhalts oder auch nur einer Verlaufslinie einstellen wollte.
Weniger abrupte Wechsel hält die Festa das Igrejas (Fest der Kirchen) von 1940 bereit: Die vier atmosphärischen Kirchen-Zeichnungen (aus Bahia, Minas, Rio und Aparecida) sind äußerlich zwar ein wenig an Respighis römischen Festen oder Brunnen orientiert, musikalisch aber von durchaus eigener, vornehmlich elegischer Diktion – die dann freilich vom fröhlichen Getöse des Schlußsatzes abgelöst wird: Die Orgel erhält hier einen regelrechten Solopart, das Orchester stürzt sich mit wahrem Vergnügen in die Möglichkeiten, die eine Dur-Tonleiter thematisch hergibt, und am Ende reckt der Komponist wie eine Fackel das Hauptthema des zweiten Satzes empor, über das der Einführungstext nichts erhebliches verrät, obwohl es gewiß recht interessant sein dürfte herauszufinden, was Dmitri Tiomkins Bestseller Do not forsake me, oh my Darlin’ und die „Titelmelodie” der Kirche Rosário de Ouro Preto in Minas miteinander zu tun haben.
Unbestreitbar die mitreißendste Komposition des Albums ist das Ballett Maracatu de Chico Rei (1933), das vom Schicksal eines afrikanischen Stammes handelt, dessen Mitglieder als Sklaven nach Brasilien entführt wurden, dort aber nach und nach ihre Freiheit erlangen und mit ihrer eigenen Hände Arbeit schließlich auch alle ihre Schicksalsgenossen freikaufen können. Die Partitur für Chor und Orchester entsprang Mignones Auseinandersetzung mit den „schwarzen” Elementen der brasilianischen Musik, die er, wenn schon nicht authentisch, so aber doch mit solcher Begeisterung nutzte, daß vor dem innern Auge eine faszinierend urwüchsige, grellbunte, suggestive Szenenfolge abläuft, die zeitweilig nur im Stehen anzuhören sein wird, weil’s einen wahrscheinlich bei der ersten Begegnung schlicht aus dem Sessel reißt.
Doch just hier, wo der Komponist so ursprünglich ans Werk geht, verlieren wir leicht die geographisch-ethnische Orientierung: Sind wir wirklich noch in Brasilien oder nicht vielleicht schon in Mexiko, wo Silvestre Revueltas praktisch zu denselben Ergebnissen kam wie der zwei Jahre ältere Francisco Mignone – es gibt offenbar ein musikalisches Grundwassersystem, das nicht nur Regionen, sondern auch Kontinente miteinander verbindet und sich immer nur phasenweise zur Wiederbelebung erstarrter Kunstformen eignet.
Über die Interpretation und den Klang der Werke ist angesichts fehlender Vergleichsmaßstäbe wenig mehr zu sagen als daß einem nicht langweilig wird, daß das Orchester sich um feinste Nuancen bemüht, aber auch hemmungslos zulangen kann – daß aber die muffige Studio-Orgel in der Festa das Igrejas den hübschen Kirchenbildern leider einiges ihrer Leuchtkraft nimmt.
Rasmus van Rijn [24.01.2005]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Francisco Mignone | ||
1 | Festa das Igrejas (1940) | |
2 | Sinfonia tropical (1958) | |
3 | Maracatu de Chico Rei (Ballett, 1933) |
Interpreten der Einspielung
- Sao Paulo Symphony Orchestra (Orchester)
- Sao Paulo Symphony Orchestra Choir (Chor)
- John Neschling (Dirigent)