Aufwühlende Klänge in unruhigen Zeiten: Die Cellistin Simone Drescher kontrastiert moderne, hochexpressive Kompositionen aus der musikalischen Schatzkammer des Baltikums mit Werken von Johann Sebastian Bach. Dabei geht es um mehr als nur die reine Musik, wie schon der Titel verrät: Mal schroff aufbegehrend, aber auch lyrisch getragen bekennt sich dieses Programm zur Humanität. Diese Aufnahme ist ein Ereignis.
Interessante Kombination eines Stiefkinds der Kammermusik von Johannes Brahms, das wegen seiner „himmlischen Längen“ gefürchtet wird. Dazu ein ähnlich lyrisches Klavierquartett von Brahms‘ Bewunderer Friedrich Gernsheim. Dem Mariani-Quartett gelang bei beiden Werken die klare Referenz.
American Violin Sonatas by Previn • Schemmer • Gay
BIS 2545
1 CD/SACD stereo/surround • 71min • 2018
15.01.2022 • 10 10 10
Der Geiger Aleksey Semenenko und der Pianist Artem Belogurov können mit drei neueren amerikanischen Violinsonaten – von André Previn, Tony Schemmer und Paul Gay – total begeistern. Mit Verve und genau dem richtigen Tonfall für typische US-Idiome gelingt hier eine faszinierende Entdeckungsreise, auch aufnahmetechnisch überragend.
Ein Provinzorganist und Kleriker schlägt eine Brücke zwischen Charles Marie Widor und Maurice Duruflé. Hochvirtuos und dankbar für den Interpreten. Kompositorisch gekonnt und emotional abwechslungsreich. Mit Liebe und Verstand gespielt.
Überlegt und mit viel Sinn für Details spielt der Pianist Alexander Gadjiev ein breites Programm von Miniaturen (exil-)russischer Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist insbesondere sein Einsatz für die Musik von Prokofjews Lehrer Nikolai Tscherepnin und dessen Sohn Alexander hervorzuheben, hier in mustergültigen Interpretationen vorgestellt.
Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz
CAvi-music 8553518
1 CD • 75min • 2021
08.02.2023 • 9 8 9
Haydns sieben letzte Worte sind schon oft eingespielt worden, aber das letzte Wort darüber ist noch nicht gesprochen: Als Weltersteinspielung ergänzen „Sheba“ Haydns musikalische Karfreitagsliturgie, aber nicht nur: Sie führen sie weiter, deuten sie, reiben sich an ihnen, kontrastieren sie, verstören bisweilen und schaffen bislang ungehörte neue Klangräume. Durch neuer Musik wird alte Musik neu erlebt.
500 Jahre Heimatlieder und -gedichte Daniel Behle • German Hornsound • Mario Adorf
Prospero PROSP0052
2 CD • 1h 34min • 2021, 2022
08.11.2022 • 10 10 10
Entspannte wie nachdenkliche Beiträge zu einem Thema, das im Laufe der Geschichte aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wurde. Der Tenor Daniel Behle findet in diesem facettenreichen Kompendium überall den richtigen Ton.
Ganz neu, ganz eigenwillig und ganz kühn geht Tobias Koch an die frühen Beethoven-Sonaten heran, indem er sich an Carl Philip Emanuel Bachs „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ orientiert. Koch verziert, überrascht und verfremdet scheinbar Beethovens Musik, so dass sie wieder wie neu erklingt, und nähert sich damit Beethovens Genius vielleicht näher an als ganz buchstabengetreue Interpretationen.
The Yiddish Songs from the Operetta by Christian von Götz
Ars Produktion ARS 38 614
1 CD • 51min • 2022
13.07.2022 • 10 10 10
Eine yiddische Operette im Broadway-Stil der 1910er Jahre, kompiliert aus zahlreichen Kompositionen heute unbekannter Komponisten - voller Witz und Tiefgang, und von Sängern und Instrumentalisten mitreißend umgesetzt.
Mozart richtig zu spielen wird schwerer, je älter und skrupulöser man wird. Elene Bashkirova hat lange gewartet, bis sie Mozarts Klaviermusik einspielt. Das tut sie mit soviel bewundernder Hingabe und bewusstem Schürfen nach seelischen Tiefenschichten, dass man Mozart ganz frisch und neu erlebt. So spricht Mozart zu uns unmittelbar, wenn auch immer noch ganz unauslotbar: Mit Elene Bashkirova geht man tief in die Tiefe.
Muss es denn ewig Mozart sein? Auch mitteldeutsche Komponisten der Klassik zeugten schöne Töchter und bereiteten auf diese Weise der Romantik den Weg. Brillante, spannende und subtile Werke der Übergangszeit in exzellenter Interpretation.
In einer grandiosen Pioniertat erweckt das Quartett Berlin-Tokyo das Streichquartett von Gawriil Popow aus einem 70-jährigen Dornröschenschlaf. Ein eindrucksvolles Plädoyer für ein Werk von monumentalen Dimensionen und expansiver Expressivität, ganz im Sinne seines Titels eine wahre "Quartett-Sinfonie".
Hinreißend schöne Stimmen, eine beachtliche Kreativität und ganz viel Mut, eine Sache bis zur letzten Konsequenz zu betreiben: Eine Sängerin und fünf Sänger haben sich im Ensemble Slixs die Musik Bachs einverleibt – aber ausschließlich seine Instrumentalkompositionen. Das Resultat ist erstaunlich, dabei bleibt alles „Bach pur“ und klingt nie nach Crossover. Fazit: Dieser Komponist muss wohl auch ein Jazzer mit Leib und Seele gewesen sein. Das Ensemble Slixs hilft, diese Erkenntnis zu vertiefen.
In eigenen Bearbeitungen stellt der junge Bratschist Mathis Rochat Werke von Sergei Rachmaninow auf der Viola vor. Zentrum des Albums ist die mit vollem, sonoren Ton hinreißend dargebotene Cellosonate, während eine Reihe von lyrisch-filigranen Liedbearbeitungen Zeugnis von Rochats Wandlungsfähigkeit ablegt.
Ein hochmotivierter Pianist mit eigenständig forschendem Ansatz. Zwei Werke, in denen es immer Neues zu entdecken gibt und eine schlüssige Logik, warum gerade Schumanns Fantasie C-Dur und Prokofjews sogenannte „Kriegssonate“ gegenüber gestellt werden. Die übrigens in der Lesart von Nenad Lecic überhaupt nicht wie eine solche klingt, denn diesen Pianisten interessiert die Struktur und nicht die Theatralik. Sein Spiel ist in jedem Moment sensationell.
Ein überaus ansprechendes Porträt von London als europäischer Musikmetropole des 17. Jahrhunderts bietet diese CD. Ausgehend von Nicola Matteis (1650-1713), der (vermutlich aus Neapel stammend) die Londoner Musikwelt schon in seinen 20er Jahren eroberte, kombinieren die vorzüglichen Musiker des Emsembles L'Ephémère seine Musik mit einem reichen Spektrum des Musiklebens der englischen Hauptstadt aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Ein überaus liebevoll, engagiert und virtuos musiziertes Programm mit Kammermusik des unerschöpflichen Georg Philipp Telemann! Von den Solisten präsentiert sich Christian Heim gleichermaßen auf Blockflöte und Gambe (ist mir noch nicht auf einer CD vorgekommen, wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt). Avinoam Shalev ist ein ebenso verlässlicher wie inspirierter Begleiter auf dem Cembalo, auf dem er auch ein Solokonzert zu dieser höchst gelungenen CD beisteuert.
Ernste Gesänge von vier Komponisten, vom Tenor Christian Elsner in der bedrückenden Corona-Zeit als musikalischer Trost und Ausweg erkannt und eindringlich interpretiert.
Der wohl bedeutendste lebende lettische Komponist, Pēteris Vasks, kann auch Klaviermusik – und wie! Mit überbordender Emotionalität und Sinn für die sich teils über lange Strecken aufladenden Naturbilder bringt das Reinis Zariņš kongenial herüber.
In mehrerer Hinsicht ist dieses Doppelalbum eine Überraschung: zum einen zeigt es, dass Strawinsky doch unerwartet viel für die Violine geschrieben hat, zum anderen macht es mit dem wunderbaren Geiger Rolf Schulte bekannt, der, obwohl in Deutschland geboren, bei uns viel zu wenig präsent ist. Das Alter (die Aufnahmen stammen aus den Siebzigern) schmälert den Erfolg der Einspielungen keineswegs.
Venedig an der Alster! Matthias Weckmann (1621-1674) war Schüler von Heinrich Schütz und Michael Praetorius, die beide die italienische Musik über die Alpen nach Deutschland importierten und im 17. Jahrhundert unauslöschliche Akzente in der deutschen Musikgeschichte hinterließen. Als Organist der Hamburger Hauptkirche St. Jakobi, in der noch heute eine berühmte Arp-Schnitger-Orgel beeindruckt, prägte er zu Lebzeiten das Musikleben der Hansestadt nachdrücklich. Ronald Wilson und sein Ensemble Musica Fiata führen mit außerordenlticher Virtuosität und höchster stilistischer Integrität Weckmanns Bläsersonaten heutigen Hörern eindrucksvoll vor Ohren.
Sinfonia drammatica • Piano Concerto No. 1 • Rhythmophonie
Capriccio C5476
1 CD • 65min • 2021
09.06.2022 • 10 10 10
Nach seiner Befreiung aus Theresienstadt lebte Hans Winterberg bis zu seinem Tod 1991 in Bayern. Seine Musik geriet, trotz einiger Aufführungen zu Lebzeiten, jedoch in Vergessenheit. Das ändert sich jetzt: Die erste CD mit Orchesterwerken bei Capriccio spannt einen stilistischen Bogen quasi von der Janáček-Nachfolge bis zu engagierter Zwölftönigkeit und erweist sich als ein einziger Glücksfall.