Encounter
Igor Levit
Sony Classical 19439786572
2 CD • 1h 48min • 2020
11.09.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Spätestens durch seine 52 im Internet der Allgemeinheit geschenkten Hauskonzerte während des Corona-Lockdowns in diesem Frühjahr ist Igor Levit nun auch beim nicht von vornherein klassik-affinen Publikum zum medialen Superstar geworden. Und nach seiner maßstabsetzenden Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten, die im letzten Herbst erschien, wirkte kürzlich die Darbietung des kompletten Zyklus in Salzburg nochmals gereifter. Dass Levit sich – trotz oder gerade wegen seiner phänomenalen pianistischen Fähigkeiten – im Grunde nie um äußerliche Wirkung und Brillanz schert, zeigte er schon vor zwei Jahren im sehr persönlichen Album Life. Unter dem Eindruck des frühen Unfalltodes eines nahen Freundes vereinte der Pianist dort auf den ersten Blick heterogen erscheinende Werke von Bach über Schumanns Geistervariationen und Liszt bis zu Rzewski und Bill Evans. Es würde sicher zu kurz greifen, sein neues Doppelalbum Encounter lediglich als Reaktion auf die erzwungene Isolation – und hier speziell den Verzicht auf öffentliche Konzerte auf dem Podium – zu begreifen. Die existenziellen Fragen, die hier aufgeworfen werden, beschäftigen Igor Levit offensichtlich schon sehr lange und sollen hier wohl keineswegs beantwortet werden. Immerhin werden sie schon durch die wieder höchst ungewöhnliche Repertoireauswahl sozusagen exemplarisch in Musik gefasst – und das Konzept geht auf!
Selten zu hörende Choralbearbeitungen in absoluter Innigkeit
Hatte schon auf dem Life-Doppelalbum Ferruccio Busoni (1866-1924) eine Hauptrolle gespielt – wir hoffen nun alle auf Levits Interpretation von dessen tiefgründigem Klavierkonzert –, ist die erste CD ausschließlich Bearbeitungen des Deutsch-Italieners gewidmet: zehn Choralvorspiele von Bach (selbst auf CD eine Rarität), sowie sechs Bearbeitungen aus Brahms‘ letztem Werk, den 11 Choralvorspielen op. 122 für Orgel. Diese sind merkwürdigerweise schon in der Originalversion nie fest ins Repertoire der Organisten eingegangen. Für Busoni war Komposition prinzipiell immer auch ein Bearbeitungsvorgang: Bereits die Verschriftlichung konnte für ihn nie den musikalischen Gedanken unverändert festhalten. Die Beschränkung auf das Klavier – wobei das erste Stück (Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist BWV 667) ja prachtvoll die geballte Klanglichkeit des Orgelplenums imaginiert – führt alleine schon quasi zu einer Beschäftigung mit der „inhaltlichen“ Essenz. Die Innigkeit, mit der Levit hier heran geht, kann komplett überzeugen. Dabei gelingt vor allem die Vorstellung von Sanglichkeit – bekanntlich ein pianistisches Paradoxon. Daneben wirken Dinge wie Durchsichtigkeit der polyphonen Stimmführung wie selbstverständlich. Und die Aufnahmetechnik aus der bewährten Berliner Jesus-Christus-Kirche ist tadellos.
Lauter Schwanengesänge, mehr und mehr reduziert
Anselm Cybinski – der mit Levit auch den fabelhaften Beethoven-Podcast beim BR gestaltet – beschreibt in seinem vortrefflichen Booklettext einen wesentlichen Aspekt des Albumkonzepts: „eine Art gestrecktes Diminuendo […], eine langsame Rückzugsbewegung von außen nach innen“. Das setzt sich also bei Regers Bearbeitung der brahmsschen Vier ernsten Gesänge fort, wo die Verinnerlichung schon durch die beeindruckend dunklen Farben der aufs Klavier übertragenen Gesangsstimme deutlich wird. Natürlich geht es hier ebenfalls letztlich um die Endlichkeit des menschlichen Daseins. Konsequent dann die aktuelle Bearbeitung Julian Beckers von Regers Nachtlied (natürlich dessen letztes vollendetes Werk). Wenn auch völlig anders gelagert, passt Morton Feldmans finales Klavierstück Palais de Mari von 1986 als Abschluss fast zwingend. Obwohl kürzer als vieles von Feldman, vereint das halbstündige Stück fast alles Typische seines Spätwerks: absolute Kontemplation bei äußerster Reduktion des Materials. Musik, die wie von einer kosmischen Urkraft angetrieben, sich dabei nur wenig verändernd, mit stoischer Ruhe immer weiterläuft. Hier erreicht Igor Levit ein geradezu unerhörtes Maß an Transzendenz, die selbst vom Tonträger spürbar wird – bravo!
Martin Blaumeiser [11.09.2020]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach/Ferruccio Busoni | ||
1 | Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist BWV 667 | 00:02:04 |
2 | Wachet auf, ruft uns die Stimme BWV 645 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:03:16 |
3 | Nun komm, der Heiden Heiland BWV 659 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:04:13 |
4 | Nun freut euch, lieben Christen g'mein G-Dur BWV 734 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:02:03 |
5 | Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ BWV 639 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:03:16 |
6 | Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf BWV 617 (Choralvorspiel) | 00:02:48 |
7 | Durch Adams Fall ist ganz verderbt BWV 637 (Choralvorspiel) | 00:02:11 |
8 | Durch Adams Fall ist ganz verderbt BWV 705 | 00:05:29 |
9 | In dir ist Freude BWV 615 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:02:17 |
10 | Jesus Christus, unser Heiland BWV 665 (Choralvorspiel) | 00:06:17 |
Johannes Brahms | ||
11 | Herzlich tut mich erfreuen op. 122 Nr. 4 (Choralvorspiel) | 00:02:57 |
12 | Schmücke dich, o liebe Seele op. 122 Nr. 5 (Choralvorspiel) | 00:02:27 |
13 | Es ist ein Ros entsprungen op. 122 Nr. 8 (Choralvorspiel) | 00:02:12 |
14 | Herzlich tut mich verlangen op. 122 Nr. 9 (Choralvorspiel) | 00:01:40 |
15 | Herzlich tut mich verlangen op. 122 Nr. 10 (Choralvorspiel) | 00:03:01 |
16 | O Welt, ich muss dich lassen op. 122 Nr. 11 (Choralvorspiel) | 00:03:07 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Denn es gehet dem Menschen op. 121 Nr. 1 (Prediger Salomo 3 - aus: Vier ernste Gesänge op. 121) | 00:04:48 |
2 | Ich wandte mich und sahe an op. 121 Nr. 2 (Prediger Salomo 4 - aus: Vier ernste Gesänge op. 121) | 00:03:32 |
3 | O Tod, o Tod, wie bitter bist du op. 121 Nr. 3 (Jesus Sirach 41 - aus: Vier ernste Gesänge op. 121) | 00:04:52 |
4 | Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete op. 121 Nr. 4 (1. Korinther 13 - aus: Vier ernste Gesänge op. 121) | 00:04:58 |
Max Reger | ||
5 | Nachtlied op. 138 Nr. 3 | 00:03:06 |
Morton Feldman | ||
6 | Palais de Mari für Klavier (1986) | 00:28:46 |
Interpreten der Einspielung
- Igor Levit (Klavier)