Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Veröffentlichung gehört zu den erstaunlichsten Debüt-CDs eines – mit 37 Jahren nicht mehr ganz – jungen Pianisten der letzten Jahre. Der aus einer Musikerfamilie stammende Burak Çebi erlernte das Klavierspiel zunächst in Izmir und studierte dann in Nürnberg. Dass er zudem etliche Meisterkurse absolviert hat und Preisträger zahlreicher Wettbewerbe ist, scheint ja heute selbstverständlich. Die Zusammenstellung der randvollen CD mit Werken türkischer Komponisten und Schuberts letzter Sonate scheint zunächst etwas gewagt, zeigt aber dann schnell die außergewöhnlichen Qualitäten des Interpreten.
CDs der Woche der zurückliegenden Jahre:
Antonio Caldara
Arias for Bass
Antonio Caldara, Arias for Bass
Pan Classics PC 10447
1 CD • 60min • 2022
25.12.2023 • 10 10 10
Seine für sein Alter ungewöhnlich umfangreichen Fähigkeiten stellt der Bassist Alexandre Baldo in den kursierenden offiziellen Biographien ein wenig unter den Scheffel, wahrscheinlich aus strategischen Gründen: Seit einigen Jahren verfolgt er eine beeindruckende Bühnenkarriere im Bereich der barocken Oper, etwa in Stücken von Lully, Händel oder Sartori; dieses Album mit Arien aus Bühnenwerken von Antonio Caldara, letztes Jahr in St. Florian aufgenommen, porträtiert Alexandre Baldo denn auch als Sänger, der sich für eine große Anzahl tiefer Männerrollen des Repertoires empfiehlt. Begonnen hat er jedoch als preisgekrönter Violist des Ensembles Mozaique.
Serenaden, also abendliche „Unterhaltungsmusik“ – aber von Mozart und damit auf höchstem künstlerischen Niveau, gespielt mit traumwandlerischer rhythmischer Perfektion vom Mozarteumorchester Salzburg unter Roberto González-Monjas, der auch mit unnennbarer Süße und Eleganz die Violin-Soli spielt. Ein Mozart zum Dahinschmelzen und zum Genießen der Stimmenverflechtungen.
Auch wenn ich bei dieser CD die volle Punktzahl vergebe, muss ich alle Hörer, die mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts nichts anfangen können, warnen, dass sie mit dieser Einspielung wohl nicht viel Freude haben werden. Die Empfehlung des formidablen Debüt-Albums von Klarinetten-Ausnahmebegabung Jonas Frølund gilt hingegen für alle Neugierigen, die neue Klangwelten für sich entdecken möchten. Denn fragt man nach dänischen Komponisten, erhält man in Deutschland – wenn überhaupt – nur Carl Nielsen und womöglich Niels Wilhelm Gade zur Antwort.
Wie schön, wenn ein Nachfahre dem zu Lebzeiten vernachlässigten musikalischen Œuvre seines kosmopolitischen (Ur)-Großonkels Leopold zu neuer Hörerschaft verhilft! Nachdem er bereits Aufnahmen von Kammermusik mit Klavier und zwei CDs mit Orchesterwerken angeregt hat, hat sich der schwedische Cellist Tobias van der Pals jetzt mit dem von ihm begründeten Quartett der ersten drei Streichquartette angenommen. Vorzügliche Musik zwischen Spätromantik und Impressionismus, die der vorrangig an der Avantgarde Schönbergs orientierten Musikkritik der Nachkriegszeit wenig Freude bereitete und deshalb unbeachtet blieb, es jedoch unbedingt verdient, gehört zu werden.
Wolfgang Amadeus Mozart, Piano Concertos Nos. 9 & 24
Ondine ODE 1414-2
1 CD • 62min • 2021
27.11.2023 • 10 10 10
Mit Krebs im Körper, aber mit unendlicher Gelöstheit spielt und dirigiert Lars Vogt zwei Klavierkonzerte von Mozart. Schöner, seelenvoller und dabei natürlicher kann man Mozart kaum spielen: Es ist ein Spiel von Schiller’scher Größe: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – aber dann so wie Lars Vogt: Er spielt - in Schiller’schem Sinne – mit der Schönheit und geradezu die Schönheit.
Tristan und Isolde Paraphrase for String Septet by Martina Trumpp
Richard Wagner, Tristan und Isolde
Coviello Classics COV 92311
1 CD • 58min • [P]
20.11.2023 • 10 10 10
Man möchte es zunächst nicht glauben: Wagners Tristan und Isolde auf nur einer CD, die sogar nur eine Spieldauer von knapp einer Stunde hat und dann auch noch ohne das ganze große Aufgebot an Sängerinnen und Sängern? Aber ja, tatsächlich ist dem Solistenensemble D’Accord mit seiner Aufnahme eine ganz ungewöhliche Version gelungen. Das Ensemble hat sich in den vergangenen Jahren mit seinen kammermusikalischen Bearbeitungen einen Namen gemacht, die vor allem von Ensembleleiterin und Geigerin Martina Trumpp erstellt wurden. Wenn man so will, spielte die Corona-Zeit dem Ensemble so gesehen fast ein wenig in die Hände, denn wohl in keiner anderen Zeit zuvor waren kammermusikalische Bearbeitungen groß besetzter Werke so gefragt.
Bernhard Henrik Crusell wurde in Finnland geboren, Karriere machte er jedoch in Schweden. Er gehört zu jener Armada an Komponisten, die als Zeitgenossen Beethovens unter der Rezeption der Werke des Musiktitanen zu leiden hatten, und erst spät wiederentdeckt wurden. Doch zu entdecken gibt es hier einiges wie die Einspielung des Helsinki Baroque Orchestra unter der Leitung von Aapo Häkkinen beweist.
Georg Philipp Telemanns 12 Fantasien TWV 40:2-13 sind das tägliche Brot fortgeschrittener Böhm-, Travers- und Blockflötisten. Jedoch haben es bisher nur wenige Oboisten gewagt, die Werke einzuspielen, da sie für dieses Instrument unangenehm hoch liegen. Wenn sie es aber so gekonnt machen und dazu einen derart tiefschürfenden, umfangreichen Booklet-Text verfassen, dass für die Präsentation ein Taschenpartitur-Format benötigt wird, kann man Matthias Arter nur höchstes Lob zollen.
Hommage à Blanche Selva, Mythique égérie du piano français
CiAr Classics CC 012
1 CD • 67min • 2020, 2021
30.10.2023 • 10 10 10
Die 1934 geborene Grande Dame der belgischen Klaviertradition und gesuchte Wettbewerbsjurorin, Diane Andersen, wählte für ihre neueste CD Werke, die von der in der Zwischenkriegszeit höchst renommierten französischen Pianistin Blanche Selva uraufgeführt oder ihr – wie das zweite Heft der Iberia von Isaac Albeniz – gewidmet wurden. Abgesehen von Vincent d’Indy kennt man die Komponistennamen vielfach nur, wenn man sich aufmerksam in dickere Abhandlungen zur Geschichte der Klaviermusik vertieft hat.
Die Kombination von Orgel und Panflöte ist ebenso sinnig wie traditionell. Nicht nur, dass beide Instrumente auf dem gleichen Prinzip der Tonerzeugung beruhen, auch, dass selbst eine kleine Panflöte mit dem Rieseninstrument Orgel dynamisch mithalten kann, spricht dafür. Andere Kombinationen wie etwa Orgel und Cello oder auch Gitarre sind da weitaus problematischer. Einiges, was in der Vergangenheit von Gheorghe Zamfir und diversen anderen Interpreten geboten wurde, war reichlich kitschig. Seichte Melodien und auf den Effekt hin getunte Volksliedarrangements erschöpfen sich eben schnell. Was man dagegen mit der Kombination alles machen kann, zeigt diese CD, die der Dresdner Kreuzorganist Holger Gehring und der Panflötist Sebastian Pachel eingespielt haben.
Georg Friedrich Kauffmann hat das Glück, aber auch das Pech, 1722 als Mitbewerber Bachs um das Amt des Thomaskantors bekannt geworden zu sein: Glück, weil er dadurch wenigstens in der Musikgeschichte einen Namen hat, Pech, weil Bach eben alles, was gleichzeitig komponiert wurde, überstrahlt. Kauffmann wurde 1679 im thüringischen Ostramondra geboren, ist in Erfurt und Merseburg unterrichtet worden, hat in Merseburg ab 1698 seinen erkrankten Orgel-Lehrer Johann Friedrich Alberti als Hof- und Dom-Organisten vertreten und 1710, nach Albertis Tod, diesen Posten eingenommen, stieg später zum „Fürstlich Sächsisch Merseburgischen Capell-Director“ auf und vertrat daneben einige Zeit auch den Hofkapellmeister – bis er 1735 in Merseburg starb.
Wie aus einem Guss – dabei immer klangschön, durchdacht und mit außergewöhnlicher Verzierungskunst – wirken Bachs Goldberg-Variationen unter den Händen des Schweizers Oliver Schnyder. Gleichzeitig gelingt es, die Vielfalt unterschiedlichster Charaktere überzeugend darzustellen: eine Einspielung mit Referenzqualitäten.
Mutig war das Lux Nova Duo immer schon – es bewies mit dem Zusammenschluss der Instrumente Akkordeon (Lydia Schmidl) und Gitarre (Jorge Paz Verastegui) zu einem festen Duo bereits Mut. Und daran hat sich seit der Gründung der Formation im Jahr 2012 nichts geändert, ganz im Gegenteil! Nach den beiden ersten Genuin-Veröffentlichungen, die sich mit Johann Sebastian Bachs Musik in der Gegenüberstellung mit der Musik teils zeitgenössischer Komponisten befasste, folgte ebenfalls bei Genuin eine CD ausschließlich mit Werken des zeitgenössischen Komponisten Leo Brouwer, mit dem das Duo eng zusammenarbeitete
Eine schöne Neuentdeckung gerade auch für die, die bereits Teile von Respighis musikalischem Schaffen kennen. Wunderbar lautmalerische Musik, die Bilder im Kopf entstehen lässt. Dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège gelingt unter der Leitung von John Neschling die Gratwanderung zwischen sinfonischem Klang und Transparenz der an der Alten Musik angelehnten Musik.
Wieder einmal überbieten sich heute die Stimmen, die von einem „Zivilisationsbruch“ sprechen. Wenn dem so wäre, bestünde die gesamte Menschheitsgeschichte als Kontinuum schlicht aus fortwährenden Zivilisationsbrüchen. Eher schon kann der Begriff des „Paradigmenwechsels“ zutreffen, und dies auch in der Kultur. Einen solchen Wechsel erblicke ich in dem Unterschied zwischen Vittorio Gianninis grandiosem späten Melodram The Medead für hohen Sopran und Orchester, wo sich eine einzige Stimme 40 Minuten gegen die Stürme des vollen Orchesters behaupten muss, und dem nur 18 Jahre später entstandenen In Memory of a Summer Day für verstärkten Sopran und Orchester (1978) von David Del Tredici, wo das vergleichbare Kräftemessen nur noch scheinbar existiert
Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach kennt so ziemlich jeder. Die Matthäuspassion von Bent Sørensen sollte jeder kennen. Der dänische Komponist hat die Leidensgeschichte Jesu auif spannende Weise neu vertont, das Ensemble Allegria und der Norwegian Soloists Choir unter der Leitung von Grete Pedersen bringen sie auf eindringliche Weise zum Klingen.
Eine Singstimme und ein Cembalo, vielleicht dazu eine Geige und ein Basso-Continuo-Ensemble: fertig ist die „Kammerkantate“, eine weltliche vokale Gattung, die im barocken Rom in den Palazzi der Kardinäle großen Anklang fand. Einer der Komponisten dafür ist Antonio Cesti (1623-1669), in Arezzo geboren, dort Chorknabe und Organist, später Opernsänger in Venedig und Florenz, schließlich ab 1652 in Innsbruck und 1666 in Wien Opernintendant und -komponist. In Innsbruck hatte er den Dichter und Librettisten Giovanni Filippo Apolloni (1620-1688) kennengelernt, der für ihn Opernlibretti schrieb und auch Kantatentexte
Emánuel Moór war nicht nur ein u.a. von Pablo Casals sehr geschätzter Komponist der Brahms-Nachfolge, sondern in seinen späten Jahren auch der Erfinder eines zweimanualigen Klaviers. Ein Exemplar davon haben der Cellist David Stromberg und der Pianist Florian Uhlig ausfindig machen können und so auf diesem Album den Klang dieses Instruments in unsere Zeit transportiert. Eine faszinierende, facettenreiche Entdeckung, auch in Sachen Repertoire und Darbietungen sehr gelungen.
Eine Lustspielouvertüre • Zwei Serenaden • Römischer Carneval
Hans Huber, Eine Lustspielouvertüre • Zwei Serenaden • Römischer Carneval
Schweizer Fonogramm SF0014
1 CD • 65min • 2022
21.08.2023 • 10 10 10
Der Schweizer Komponist Hans Huber (1852-1921) ist in seiner Heimat sehr bekannt, so dass einige Straßen sowie der Kammermusiksaal des Basler Stadtcasinos nach ihm benannt sind. Außerhalb der Schweiz ist ist dies weniger der Fall – obwohl die Discografie doch beachtlich ist. Geboren ist er im Kanton Solothurn, studierte Komposition in Leipzig bei Carl Reinicke, war dann Klavierlehrer im Elsaß, bis er 1877 nach Basel zog. Dort dominierte er bald das Musikleben: Er arbeitete als Klavierlehrer an der Allgemeinen Musikschule, deren Direktor er 1896 wurde, regte die Gründung des Schweizerischen Tonkünstlerverbandes an und gründete 1905 das Basler Konservatorium, als dessen Direktor er bis 1905 amtierte, außerdem leitete er den Basler Gesangsverein.
Kammermusik ist schwierig, diffizil und heikel – aber nicht, wenn die Chaarts Chamber Artists spielen. Bei ihnen ist jeder ein Meister auf seinem Instrument und sie bieten hier bei Beethovens Septett ein traumhaft sicheres Zusammenspiel, das immer symbiotisch wirkt und bei dem sich kein Instrument in den Vordergrund spielt: eine vollkommen geglückte und glücklich machende Aufnahme!
Sonate a quattro Goldberg • Fasch • Handel • Janitsch • Telemann
Ensemble Diderot, Sonate a quattro
Audax Records ADX11201
1 CD • 56min • 2021
07.08.2023 • 10 10 10
Seitdem die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihre vormals hochqualitativen Programme nach dem Vorbild des Privatradios gemäß dem stupiden Prinzip dudelnder „Durchhörbarkeit“ gestalten – also, kurz gesagt, einen aus Schnipseln bestehenden Dauerbrei senden –, hat die Begriffsprägung „barocke Dutzendware“ neue Virulenz bekommen. Nicht ganz ein halbes Dutzend Sonaten deutscher Barockkomponisten sind auf diesem neuen Album „Sonate a quattro“ des Ensemble Diderot versammelt, und nie war die eben zitierte abfällige Wendung unpassender: Hier begegnen fünf exquisit gestaltete kammermusikalische Juwelen des 18. Jahrhunderts.
Piano Concerto • Concerto for Two Pianos • Overture • Music for String, Trumpets and Percussion
Grażyna Bacewicz, Piano Concerto • Concerto for Two Pianos • Overture • Music for String, Trumpets and Percussion
Ondine ODE 1427-2
1 CD • 63min • 2022
31.07.2023 • 10 10 10
Unter den zahlreichen Neuaufnahmen mit Musik der Polin Grażyna Bacewicz sticht diese Produktion neben ihrer ausgereiften künstlerischen Qualität auch dadurch hervor, dass gerade Neueinsteiger gelungene Beispiele aus allen Schaffensperioden der Komponistin kennenlernen dürfen.
Toru Takemitsu (1930-1996) ist bis heute unbestritten der wichtigste japanische Komponist. Anfangs vor allem durch französische Musik beeinflusst, probierte er ab den 1950ern so ziemlich alle Avantgarde-Techniken aus, integrierte bald auch typisch japanische Instrumente wie Biwa oder Shakuhachi in klassische Besetzungen. Seine Orchestermusik ist von enormer Farbigkeit und Sensibilität; ihr Wohlklang ab den späten 1970er Jahren erinnert stark an Berg, Messiaen oder Dutilleux
Béla Bartók, Hungarian Pictures • Concerto for Orchestra
Tacet S 262
1 CD/SACD stereo/surround • 48min • 2019
17.07.2023 • 10 10 10
Die CD begeistert durch die Frische und Präzision, mit denen Werke Bartöks aus verschiedenen Schaffensperioden interpretiert werden. Die Ungarischen Bilder von 1931 zeigen Bartóks Liebe zur Volksmusik auf, wobei unterschiedliche Charaktere auftreten. Das Konzert für Orchester von 1943 spiegelt die Krisenstimmung der Zeit wie auch die reine Freude am Musizieren in vollendeter Leistung von Dirigent und Orchester.
Die Herrscherfamilie Habsburg war musikalisch außerordentlich begabt, unter ihnen sticht Kaiser Leopold I. (1640-1705) als bedeutender Komponist seines Zeitalters hervor, der mit mehr als 200 Werken ein ansehnliches Œuvre hinterließ. Zunächst nicht für die Nachfolge auf dem Thron vorgesehen, wurde Leopold als Nachfolger seines verstorbenen älteren Bruders Ferdinand 1655/56 zum König von Ungarn und Böhmen gekrönt. Nach Überwindung etlicher Schwierigkeiten trat er 1658 auch die Herrschaft als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation an; Leopold war einer der letzten Kaiser, der seinem Titel durch persönliches Wirken eine gewisse Machtfülle verleihen konnte.
Christoph Graupner, Complete Cantatas for two sopranos and bass
cpo 555 577-2
1 CD • 79min • 2022
03.07.2023 • 10 10 10
Christoph Graupner (1683-1760) wirkte fast ein halbes Jahrhundert am Hofe des Landgrafen von Hessen-Darmstadt hat und dabei ein Riesen-Œuvre mit über 2000 Werken hinterlassen, darunter allein etwa 1400 Kirchenkantaten. Damit war er mindestens genauso produktiv wie sein Zeitgenosse Johann Sebastian Bach – der Graupner als Thomaskantor vorgezogen wurde, weil Graupners Landesherr ihn partout nicht freigeben wollte. Peter Wollny, Direktor des Bacharchivs Leipzig, geht im Booklet dem Gedankenspiel nach, was wohl geschehen wäre, wenn Graupner den Posten bekommen hätte: Ob er wohl auch größer dimensionierte Werke komponiert hätte als die, die er für die kleinere hessische Schlosskirche geschaffen hat?
Bereits in ganz jungen Jahren räumte der britische Pianist Benjamin Grosvenor in seiner Heimat so ziemlich alle nationalen Preise ab, und hat – gerade mal dreißig – längst einen Exklusivvertrag bei Decca. Zuletzt hatte eine enorm sensible Einspielung u.a. der Lisztschen h-Moll Sonate große Zustimmung erfahren. Wie in Klavieralben schon verschiedentlich ausprobiert, dreht sich seine Neuveröffentlichung eigentlich um Clara Schumann – und in deren Umfeld naturgemäß um die Musik ihres Gatten Robert und des zeitlebens eng mit ihr verbundenen Johannes Brahms.
Der dänische Pianist Kristoffer Hyldig legt eine ausgezeichnete Einspielung von Messiaens Vingt Régards sur l'Enfant-Jésus vor, die besonders das Mysterium und die Spiritualität dieser Musik betont. Eine intensive, klangvolle Aufnahme, die sich viel Zeit nimmt und von inniger Versenkung bis hin zu gewaltiger expressiver Wucht die Facetten dieses Zyklus beispielhaft auslotet.
Music from the former library of Dr. Werner Wolffheim
Album for the Lute, Music from the former library of Dr. Werner Wolffheim
TYXart TXA22172
1 CD • 73min • 2020
12.06.2023 • 10 10 10
Ein Album barocker Lautenmusik legt der Virtuose Bernhard Hofstötter auf dieser CD vor; sie präsentiert Musik des Barocks aus ganz Europa, die ohne die Energie eines unermüdlichen Sammlers des musikalischen Erbes vergangener Jahrhunderte heute gewiss unter die verlorenen gegangenen Schätze der Musikgeschichte zu zählen wäre: Werner Wolffheim (1877-1930), Jurist und Musikwissenschaftler, trug durch seine Sammelleidenschaft entscheidend dazu bei, dass etliche Meisterwerke der Barockliteratur der Nachwelt erhalten geblieben sind.
Es mag verwundern, aber es ist tatsächlich so: Obwohl es Posaunen seit dem 15. Jahrhundert gibt, ist das kammermusikalische Repertoire für dieses Instrument immer recht überschaubar geblieben, jedenfalls, wenn man es mit dem für Oboe, Geige oder etwa Trompete vergleicht. Die Posaune wird vielfach als Orchester- und Ensembleinstrument gesehen, steht ansonsten aber eher im Schatten. Das wird sich auch nicht mit einer CD ändern lassen, aber diese Einspielung des Posaunisten Jörgen van Rijen zeigt in jedem Fall, das die Posaune durchaus als Kammermusik-Instrument zu gebrauchen ist. Mangels Repertoire hat van Rijen auf neue Werke und Bearbeitungen zurückgegriffen, die von Dowland bis hin zu Neuester Musik reichen.
Neben Sonate und Suite gehörte die Solo-Kantate mit Continuo zu den wichtigsten, jedoch bisher eher vernachlässigten Gattungen barocker Kammermusik. Alessandro Scarlatti, Vater des Hände-kreuzenden Domenico, definierte in seinen 500 Kompositionen ihre endgültige Form, der dann Händel, Telemann und sogar die Franzosen Rameau und Boismortier Tribut zollten. Lucie Richardot und Philip Grisvard brechen mit stilsicherer Virtuosität absolut überzeugend eine Lanze für dieses vernachlässigte Genre.
Florian Leopold Gassmann, Oboe Quartets & Quintets
cpo 555 528-2
1 CD • 67min • 2021
15.05.2023 • 10 10 10
Wer eine Musik sucht, die in düsterer Zeit heitere Schönheit verströmt und Altersdiskriminierung für verwerflich hält, greife zu den von Lajos Lencés wiederentdeckten Kammermusikwerken für Oboe und Streicher von Florian Leopold Gassmann. Der Komponist führte hier einige seiner charmantesten Arien einer absolut idiomatischen Zweitverwertung zu, die der fast Achtzigjährige Oboist und das Szigeti-Quartett in einer perfekt ausgewogenen Aufnahme mit großem Charme und Stilgefühl uns Hörern vermitteln.
In den Zeiten, in denen es noch keine verbreitenden Medien gab, mussten große musikalische Werke durch verkleinernde Kammermusikbesetzungen bekannt gemacht werden. Auch für Beethovens Symphonien waren Kammermusik-Arrangements das „wichtigste und nachhaltigste Instrument für die Verbreitung, Aneignung und Kanonisierung des sinfonischen Werks“, konstatiert Andrea Klitzing, die Flötistin dieser Aufnahme und promovierte Musikwissenschaftlerin, im dreisprachigen Booklet. Von den hier gespielten Symphonien Nr. 2 und Nr. 5 seien bis zum Jahre 1850 jeweils mehr als achtzig derartige Ausgaben angefertigt worden.
Klein aber Oho! Das kann man wohl als Quintessenz von dieser Einspielung behaupten, die in die faszinierende Klangwelt des Piccolos einführt. Haika Lübcke, Solo Piccolo-Flötistin beim Tonhalle Orchester Zürich, hat eine bemerkenswerte CD aufgenommen, die der Legende von Marsyas und Apollo nachspürt. Ersterer, ein Flöte spielender Satyr, hatte den Gott der Musik herausgefordert – und verloren, weil der Gott zu einer höchst menschlichen List gegriffen hatte: er setzte zusätzlich zur Leier noch seinen göttlichen Gesang ein. Und dagegen hatte der Herausforderer keine Chance.
Der Prager Romantiker Hans Seeling hinterließ bei seinem frühen Tod nur ein schmales Gesamtwerk, das ausschließlich aus Klavierstücken besteht, die zum Teil autobiographisch inspiriert sind. Karl-Andreas Kollys Einspielung ausgewählter Werke Seelings führt in eine hochpoetische Welt, die der Pianist, ebenso virtuos wie einfühlsam, zu neuem Leben erweckt.
Den Namen Pisendel hat man womöglich im Zusammenhang mit den Konzerten Antonio Vivaldis mit dem Zusatz „fatto per il Sig. Pisendel“ gehört. Auch wird des öfteren vermutet, dass J. S. Bach seine 6 Sonaten und Partiten für Solo-Violine für den Dresdner Konzertmeister schrieb. Geiger wissen möglicherweise, dass Johann Georg Pisendel (1687-1760) neben Vivaldi, Pietro Locatelli und Jean-Marie Leclair zu den bedeutendsten Geigern des 18. Jahrhunderts gehört. Dass er auch hinreißend zu komponieren vermochte, zeigt die vorliegende CD.
Georg Philipp Telemann, Complete Violin Concertos Vol. 8
cpo 777 882-2
1 CD • 61min • 2013
10.04.2023 • 10 10 10
Auf dem vorliegenden achten Teil der Gesamteinspielung durchkreuzt die Geigerin Elizabeth Wallfisch mit ihrem Ensemble The Wallfisch Band das Meer von Telemanns Violinkonzerten mit einer reichhaltigen Auswahl aus dem schier unerschöpflich scheinenden Œuvre, das die nimmermüde Fantasie Telemanns an konzertanten Kompositionen für eine oder mehrere Violinen hinterlassen hat. Frühe Kompositionen der Eisenacher Zeit gesellen sich zu Meisterwerken der 1730er Jahre, als Telemann bereits ein in ganz Europa gerühmter Komponist war und als „director musices“ das Musikleben der reichen Hansestadt Hamburg leitete.
„Warum nicht einmal ein absolutes Repertoirestück mit zwei Raritäten von Priester-Komponisten aus der selben Zeit konfrontieren?“ mag sich Pianist und Romancier Yorck Kronenberg gedacht haben. Den einen dieser geistlichen Herren kennt man vielleicht aus musikhistorischen Abhandlungen. Es ist der seinerzeit als Kompositionslehrer sehr geschätze Padre Giovanni Battista Martini (1706-1784). Den anderen, Johann Franz Sterkel (1750-1817), muss man erst in den einschlägigen Lexika nachschlagen. Und das zugehörige Repertoire-Stück ist Mozarts Klavierkonzert KV 466.
Gerade einmal 22 Jahre ist er jung, der Pianist, Cembalist und Organist Aurel Dawidiuk. Bereits in diesem jugendlichen Alter kann er schon auf eine beachtliche Karriere blicken: Nachdem er mit sechs Jahren den Weg zum Klavier fand, war er bereits mit 14 Jahren Jungstudent bei Roland Krüger in Hannover sowie Orgelschüler bei Martin Sander in Detmold. Seitdem hat er in zahlreichen renommierten Sälen weltweit gespielt, unter anderem in der Elbphilharmonie, dem Pierre Boulez Saal Berlin, dem Konzerthaus Dortmund, außerdem in Russland, Nordirland, Frankreich und Österreich. Zahlreich sind auch die Preise, die er gewonnen hat sowie die Stipendien, die er erhielt
Viola à L'École de Paris, Martinů • Tcherepnin • Harsányi • Tansman • Mihalovici
CAvi-music 8553028
1 CD • 72min • 2019
20.03.2023 • 10 10 10
Wie aufregend, wenn der ARD-Preisträger 2018 und seit Februar 2022 erster Solo-Bratschist der Berliner Philharmoniker, Diyang Mei, mit dem wohl besten deutschen Kammer-Pianisten und Repertoire-Enzyklopäden Oliver Triendl ein Album mit Stücken erarbeitet, die bisher wohl kaum einer je im Konzertsaal gehört hat. Nämlich Werke von osteuropäischen Komponisten, die in den 1890er Jahren geboren wurden und später zu Wahl-Parisern wurden.
Warum Astor Piazollas Musik nie an Anziehungskraft verlieren wird, erklärt sich allein schon aus deren Bestandteilen: Eine synkopenhafte Rhythmik zieht in einen hypnotischen Sog hinein, verdichtet sich gar mit peitschenden, perkussiven Akzenten. Melodisch und harmonisch geht es stark in Richtung Jazz, wobei gerade chromatischen Abwärtsbewegungen viel Gewicht zukommt. Diese aufreizende Mischung, bei der klassischer argentinischer Tango als Ur-Quelle fungiert, atmet wie kaum sonst etwas – und behält zugleich eine prägnante Klarheit und Logik. Kein Wunder, steht doch Bachs Kontrapunkt bis hin zur Fugenform als Bindeglied im Zentrum dieser Mechanik.
Die Zählung der – vermutlich – acht Gattungsbeiträge der erfolgreichsten Symphonikerin des 19. Jahrhunderts, Emilie Mayer (1812-1883), bedarf einer Erläuterung. Denn obwohl Mayer als ledige, vermögende Erbin unabhängig als Komponistin arbeiten konnte – damals quasi ein Alleinstellungsmerkmal – und ihre Musik zu Lebzeiten durchaus geschätzt wurde, blieb auch ihr Werk zum Teil ungedruckt. Bei den Symphonien wurde so die Instrumentation der vierten (h-Moll) aus dem lediglich erhaltenen Klavierauszug erst kürzlich rekonstruiert. Die Fünfte in D-Dur gilt als verloren, die Existenz einer 8. Symphonie (in F-Dur?) als ungesichert. Bis Anfang 2022 fehlte von den erhaltenen Stücken noch eine Einspielung der 3. Symphonie C-Dur, was aber in diesem Jahr gleich dreimal nachgeholt wurde. Von der hier ebenfalls zu besprechenden 7. Symphonie f-Moll gibt es bereits einen Live-Mitschnitt von 2001, der allerdings fälschlich als „Nr. 5“ auf CD veröffentlicht wurde.
Eine musikalische Reise durch das Kirchenjahr Orgelimprovisationen von Ruben J. Sturm
Kirchenfenster, Eine musikalische Reise durch das Kirchenjahr
Ambiente-Audio ACD-3060
1 CD • 78min • 2022
27.02.2023 • 10 10 10
Sie ist das tägliche Brot für viele Organisten: die Improvisation. Zum Einzug, während unzähliger Gottesdienste und auch als „Rausschmeißer“ ist oft genug das musikalische Geschick von Organisten gefragt, die liturgische Stimmungen aufgreifen, den Gemeindegesang vorzubereiten und zu unterstützen und auch mal die ein oder andere liturgische Lücke zu überbrücken. Dabei ist allerdings kein sakraler Muzak gefragt, sondern liturgisches Orgelspiel, das auf Zeit, Ort und Gelegenheit eingeht. Ein wahrer Meister dieser Kunst ist Ruben J. Sturm, der seit kurzem als neuer Domorganist am Münchner Liebfrauendom amtiert.
Man könnte annehmen, dass es sich bei der Gattung des Klaviertrios um eine recht ‚klassische‘ handelt: Haydn hat für sie geschrieben, ebenso wie auch Mozart und Beethoven, von den Komponisten nachfolgender Generationen einmal ganz abgesehen. Und doch gelingt es dem Oliver Schnyder Trio bei seiner neuen Einspielung, der Gattung einen anderen Anstrich zu geben. Wie sehr das auch in der Absicht des Trios liegt, merkt man spätestens beim Einstieg in den wunderbaren Booklet-Text von Eva Gesine Baur, die hier einsteigt über den Titel „Bohemian Rhapsodies“ und den riesigen Erfolg Freddy Mercurys mit seiner „Bohemian Rhapsody“. Tatsächlich gelingt es ihr, Parallelen zwischen seiner Musik und den beiden Klaviertrios von Bedrich Smetana und Antonin Dvorak herzustellen.
Johann Nepomuk Hummel, Orgelwerke • Organ Works Vol. 3
Ambiente-Audio ACD-2045
1 CD • 77min • 2022
13.02.2023 • 10 10 10
Die gute Nachricht zuerst: Mit dieser CD ist die dritte Folge der Einspielung des Orgelwerkes von Johann Nepomuk David durch Roman Summereder erschienen. Die schlechte: Es soll die letzte sein. Das ist ausgesprochen schade, denn es gibt derzeit keinen anderen Interpreten, der sich so glutvoll für diese oft unterschätzte Musik ins Zeug legt wie Summereder, das zeigt auch die dritte Folge der Trilogie sehr nachdrücklich. Noch einmal wird hier die enorme Bandbreite des Davidschen Orgelschaffens verdeutlicht, das längst nicht so verkopft und akademisch ist, wie oft behauptet wird.
"Mes Ennuis" Favourite Works Vol. 1 Frank Bungarten
Fernando Sor, Mes Ennuis Favourite Works Vol. 1
MDG 905 2263-6
1 CD/SACD stereo/surround • 75min • 2021
06.02.2023 • 10 10 10
Fernando Sor wurde 1778 in Barcelona geboren. Als Anhänger der in Spanien eindringenden Franzosen musste er nach Napoleons Niederlage das Land verlassen. Paris lockte – mit all seinen Bühnen und Salons. Hier erwarb sich Fernando Sor seinen Ruf als König des romantischen Gitarrenspiels. Er veröffentlichte unzählige Gitarrenwerke in Genres, die wir auch aus der Klaviermusik kennen: Bagatellen, Variationen, Salonstücke, Fantasien.
Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Veröffentlichung gehört zu den erstaunlichsten Debüt-CDs eines – mit 37 Jahren nicht mehr ganz – jungen Pianisten der letzten Jahre. Der aus einer Musikerfamilie stammende Burak Çebi erlernte das Klavierspiel zunächst in Izmir und studierte dann in Nürnberg. Dass er zudem etliche Meisterkurse absolviert hat und Preisträger zahlreicher Wettbewerbe ist, scheint ja heute selbstverständlich. Die Zusammenstellung der randvollen CD mit Werken türkischer Komponisten und Schuberts letzter Sonate scheint zunächst etwas gewagt, zeigt aber dann schnell die außergewöhnlichen Qualitäten des Interpreten.
Es ist eine ungewöhnliche Instrumentenkombination, die das Lux Nova Duo zu bieten hat: Das Duo, bestehend aus dem peruanischen Gitarristen Jorge Paz Verastegui und der deutschen Akkordeonistein Lydia Schmidl, hat sich 2012 gegründet. Seitdem sind zahlreiche Arrangements bereits vorhandener Werke entstanden, die das Duo gerne auch selbst vornimmt, aber auch alleine 35 neue Werke, die das Duo aus der Taufe gehoben hat. Mit seiner ungewöhnlichen Besetzung und gekonntem Zusammenspiel ist das Duo ausgesprochen erfolgreich und konzertierte bereits in bedeutenden Konzertsälen Europas und Südamerikas.
500 Jahre Heimatlieder und -gedichte Daniel Behle • German Hornsound • Mario Adorf
Heimat, 500 Jahre Heimatlieder und -gedichte
Prospero PROSP0052
2 CD • 1h 34min • 2021, 2022
16.01.2023 • 10 10 10
Entspannte wie nachdenkliche Beiträge zu einem Thema, das im Laufe der Geschichte aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wurde. Der Tenor Daniel Behle findet in diesem facettenreichen Kompendium überall den richtigen Ton.
Endlich findet der Spätestromantiker Walter Braunfels (1882-1954) die ihm zukommende Anerkennung. Dies ist vorrangig dem Einsatz des bekannten Architekten Stephan Braunfels für das Schaffen des Großvaters zu verdanken. Das Minguet-Quartett bietet jetzt erstmalig das Streichquintett und alle drei Streichquartette des Komponisten auf einem Doppelalbum, das als Co-Produktion mit dem Deutschlandfunk entstand.
Die Krönung der Poppea – L’Incoronazione di Poppea ist die Krönung des Operschaffens von Claudio Monteverdi (1567-1643), ihre Uraufführung fand im venezianischen Teatro Santi Giovanni e Paolo während der Karnevalsaison 1643 statt; Monteverdi starb am 29. November desselben Jahres. Etliche Einspielungen seit den 1950er Jahren haben die Unsterblichkeit der Krönung der Poppea bestätigt, sie in der Diskographie etabliert und alle stilistischen Adaptationen dieses Gipfelpunkts der Barockoper dokumentiert